Persönliches Bekenntnis zum Reisen
Joanna & Marcel, 15. 08. 2011

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, alte Reiseberichte über die von uns besuchten Orte zu befragen, die vor der Zeit der massentouristischen Völkerwanderungen der letzten Jahre entstanden sind. Man mag oft nicht glauben, wie die Landschaft und die Menschen auf die Reisenden der vergangenen Jahrzehnte gewirkt haben. Bereist man heute Korfu, sucht man vergebens nach der Atmosphäre, die die Durrells in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in Kalami vorgefunden haben, und die sie zu mehrjährigen Aufenthalten und grandiosen Texten bewegt hatte. Besucht man heute Kardamili kann man verstehen, warum sich Sir Patrick Leigh Fermor zuletzt ins private zurückzog und über “seine” Mani, die er in den 50er Jahren erwandert und die er so ergreifend und tiefsinnig beschrieben hat, in Interviews nicht mehr sprechen mochte. Doch man braucht gar nicht so weit zurück zu greifen, um zu erahnen, wie der Tourismus auch in den letzten zehn Jahren die Landschaften und deren Bewohner verändert hat. In einem Reiseführer von 1987 lese ich, dass im Jahr zuvor gerade einmal 6000 ausländische Besucher Albanien bereisten. In Durrës existierten drei! Ausländerhotels. Auf nur wenige Jahre alten Wanderkarten sind Neubausiedlungen noch als Wiesen und Felder eingezeichnet. Fuß- und Eselswege wurden zunehmend asphaltiert oder dem Verfall überlassen.

Und so stehen auf wir vor dem touristischem Dilemma: Bereisen wir die asphaltierten Pfade und groß angelegten Touristenorte, fördern wir den Massentourismus; nehmen wir statt dessen die staubigen Pisten und Wanderwege zu kleinen Dörfern und abgelegenen Weilern, werden auch wir früher oder später dazu beitragen, dort den Massen Tür und Tor zu öffnen. Doch soll man zu Hause bleiben? Wir haben uns dazu entschieden, das zu tun, was man kann, sich den großen Massen zu verweigern und nachhaltig zu Reisen: Kleine Tavernen und lokale Oekonomien und Restaurants (Slowfood!) statt 10-seitige Speisekarten und all you can eat, Stadthäfen, kleine Molen und Ankerbuchten mit ein oder zwei Konobas statt groß angelegte Marinas mit All Inclusive Angebot. Ob dies hilft? Zumindest lebt man ruhiger, erleichtert das Gewissen und vermeidet Überfettung und Tinnitus.

Man sensibilisiert sich für das, was man tut, sieht oder sich einverleibt (siehe Gastronautisches). Wir lernen bewusst zu unterscheiden und nur so gewinnt die Umgebung für uns an Bedeutung. Welche Kriterien unterscheiden einen Golfrasen auf Gran Canaria von einem auf Korfu? Wie wunderbar berauschend aber erscheint die Wiese im Johanniterkastell in Kos im Februar! Oder das Tal der Toten auf Kreta im Frühjahr! Findet man am Strand einen ganzen Haufen an ausgelösten Seeiegelgehäusen, sucht man am besten gleich in den umliegenden Tavernen die Tageskarten ab! Wir alle wissen wie ein Chardonnay schmeckt, und hält dieser unseren Bewertungskriterien stand ist er umwerfend, umschmeichelt den Gaumen und berauscht uns ohne uns zu betäuben. Und wenn wir soweit sind, können wir auch die Aromen von Limette und Apfel eines Robola aus Keffalonia würdig genießen.

Im Film Sideways von Alexander Payne bemerkt Miles zu einem der besten Tropfen seines Weinkellers, er habe noch nicht den richtigen Anlass gefunden, ihn zu trinken. Seine Gefährtin erwidert darauf hin, der Wein wäre der richtige Anlass! Und so sind die Länder, Landschaften und Menschen uns genug Anlass, sie zu bereisen. Winde, Melodien und kulinarische Entdeckungen. Geräusche von nächtens knackendem Bambus, der Duft von Pinien, wenn man von See in eine bewaldete Bucht einläuft, der Duft von nahendem Regen und der Duft danach. Bewusstes Reisen statt konsumierender Tourismus.

Der All Inclusive Instant-Tourismus ist nichts anderes als eine Sparte der universalen Unterhaltungsindustrie – Alles, aber günstig! Es werden Gated Communities als offene Horizonte mit Sonnenuntergang verkauft. Nur, Grenzen, auch die gesellschaftlichen, in denen man lebt, dürfen nicht überschritten werden. Neue Lebensentwürfe fehlen und utopische Gegenentwürfe erst recht. Welche Möglichkeiten sich der Mensch selber nimmt, ist noch nicht abzusehen.

Die Demokratisierung und Ökonomisierung hat das Reisen in Tourismus verwandelt. Doch Demokratie bringt nicht nur Rechte, sondern ebenso viele Pflichten mit sich. Dem mündigen Bürger stehen alle Möglichkeiten offen, doch versteht er auch damit umzugehen? Verkehrsmittel sind allen zugänglich. Und das sowohl im Hinblick auf Bezahlbarkeit, wie auch im Hinblick auf Zeitersparnis. Es wurde dem Reisenden also zunehmend leichter gemacht, sich auf eine Reise zu begeben. Man muss sich nicht mehr auf eine Reise einlassen. Es erfordert weder Vorbereitung – eine Reise ist in wenigen Minuten online gebucht – noch Aufmerksamkeit vor Ort, denn die Veranstalter versuchen, dem Reisenden jegliche Anstrengung, die erforderlich ist, einen gewünschten Verlauf oder Erfolg der Reise herbeizuführen, zu ersparen. Ebenso wenig ist eine Nachbereitung erforderlich, denn man hat sich erholt und entspannt, der Zweck der Reise ist also erfüllt, es ist nunmehr keine weitere Beschäftigung oder geistige Aktivität notwendig, um das Erlebte in den persönlichen und gesellschaftsrelevanten Gesamtzusammenhang einzuordnen oder das Erlebte mit Bedeutung zu versehen. Der Alltag besteht aus Arbeiten und konsumieren, der Urlaub nur noch aus konsumieren. Der Tourist sammelt keine Erfahrungen mehr, allemal noch Bilder. >> Picasa, Foto Handy, Foto Apps, Twitter, „Sitze gerade im Starbucks in Bangkok.“ Ich teile mich mit, also bin ich.

Im Grunde buchen die meisten Leute eine Reise, treten sie an und beschweren sich im Verlauf oder im Nachhinein über das Wetter, das Hotel, die Stadt und Umgebung, in der es sich befindet, über die Qualität des Essens und der Strände, über gechlortes oder zu kaltes Leitungswasser, über die vielen anderen Touristen, usw. Wenn man aber als professioneller Reisender sich selber ernst nimmt, beginnt die Beschäftigung mit der Reise schon zu Hause. Aus tausenden und abertausenden von Wahlmöglichkeiten, die schon die Planung, geschweige denn die Durchführung einer Reise bieten, ergeben sich immer neue, die mit Bedacht gewählt sein wollen. Andererseits muss man mit den Entscheidungen leben und die Konsequenzen akzeptieren. Wahrnehmung, Thematisierung und Problematisierung ist also beim Reisen, wie eigentlich in allen anderen Lebensbereichen auch, mehr gefragt, denn je. Denn üben wir uns nicht in diesen Disziplinen im täglichen Leben verlieren wir unsere Mündigkeit und verweilen in regloser Idiotie.

Wir brauchen also eine Professionalisierung des Reisens, das ein Studium Fundamentale des Reisens notwendig macht. Ein Studium an uns selbst und mit unserer Umwelt. Was wir lernen müssen ist das Unterscheiden und das Generieren von Bedeutung, bewusstes  Sehen und Schmecken, die Fähigkeit des Erkennens von Handlungskonsequenzen.

Der Reisende trägt durch seine Unterscheidungsfähigkeit, die sich in Handlungen widerspiegelt, getätigte wie unterlassene, zur aktiven Gestaltung seiner Umwelt bei. Je höher bei Reisenden der Grad an Wahrnehmungsvermögen, Unterscheidungsfähigkeit und Problematisierungsvermögen, desto höhere Anforderungen werden an die Umwelt gestellt.  Wer dies verinnerlicht, wird das Reisen als Akt der Gegenseitigkeit erkennen, als eine Interaktion zwischen Gast und Gastgeber, zwischen Reisendem und bereistem Ort.

Und noch etwas zum Nomadentum: Der Akt des sich Bewegens ist schon an sich ein kognitiver Prozess. In der Bewegung gibt unser Körper permanent Rückmeldung an das Gehirn, was zum prozeduralen Lernen führt. Denken Sie noch über die Bewegungen nach, die zur Durchführung von Kulturtechniken wie Radfahren oder Nahrungsaufnahme notwendig sind? Reisen Sie aber nach Japan müssen Sie lernen mit Stäbchen Suppe zu essen und im Straßenverkehr auf der linken Seite zu fahren, was erhöhte Aufmerksamkeit erfordert.