Joseph Roth – Albanien (1930)
Joanna & Marcel, 07. 07. 2010

Moses Joseph Roth (* 2. September 1894 in Brody/ehem. Polen, heute Ukraine; † 27. Mai 1939 in Paris) war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist.


„Roth ist leider ein Narr, wenn auch ein liebenswerter. Welch ein herrlicher Mensch geht da zugrunde“ (Stefan Zweig) 1935

Bezeichnend für Roth ist die Mystifizierung seiner Kindheit, seiner Herkunft, seiner Ausbildung. Seinen familiären Hintergrund beschreibt er folgendermaßen:

„Meine Mutter war eine Jüdin von kräftiger, erdnaher, slawischer Struktur, sie sang oft ukrainische Lieder, denn sie war sehr unglücklich […] Sie hatte kein Geld und keinen Mann. Denn mein Vater, der sie eines Tages nach Westen mitnahm, wahrscheinlich nur, um mich zu zeugen, ließ sie in Kattowitz allein und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Er muss ein merkwürdiger Mensch gewesen sein, ein Österreicher vom Schlag der Schlawiner, er verschwendete viel, trank wahrscheinlich und starb, als ich sechzehn war, im Wahnsinn. Seine Spezialität war die Melancholie, die ich von ihm geerbt habe.“ (Joseph Roth, zit.: Süddeutsche Zeitung, 2. Sepember 1994)

Sein Vater gehörte der chassidischen Bewegung an, Roth lernte ihn jedoch tatsächlich nie kennen. Im Jahre 1913 schrieb sich Roth mit 19 Jahren an der Universität von Lwow (ehem. Polen) ein, wechselte aber bereits im zweiten Semester nach Wien, wohin er mit seiner Mutter übersiedelte. Er studierte dort Germanistik und Philosophie. 1916 bis 1918 diente er in Galizien: Er und ein Freund waren beide „bei Ausbruch des Krieges Pazifisten. Beide ändern aber [-aus später für ihn nicht wieder nachvollziehbaren Gründen-] ihre Haltung, sie empfinden es als Schande, unnütz in Wien zurückgeblieben zu sein und melden sich freiwillig.“ Militant war Roth jedoch trotzdem nie, so betont er stets das Leid, das der Krieg bringt. „Die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV […] waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompanie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Ihr Frieden mit dem Feind war besiegelt. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg; gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden.“

Krieg, seine materielle Unsicherheit, die politische Entwicklung und die mentale Krankheit (fortschreitende Schizophrenie) seine Ehefrau trieben ihn immer mehr zum Alkoholismus. Nach seiner Teilnahme am ersten Weltkrieg und nachdem er sein Studium aus finanziellen Gründen abgebrochen hatte, begann Roth für einige neue, kritische, leider aber nur kurzlebige Zeitungen zu schreiben. Er verarbeitete damals in seinen Feuilletons Gedanken, „die“, so Helmut Peschina, „aus dem Geist der Stunde geboren waren.“ Roth lebte und schrieb also zuerst in Wien, dann, ab dem Jahre 1920, in Berlin. 1923 kehrte er wieder nach Wien zurück. Er reiste auch sonst viel herum- außerordentlich viel. Einen „Großteil“, schreibt man in „Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag“ (wahrscheinlich doch etwas aufbauschend), „seines Lebens verbrachte er in Hotels, ohne festen Wohnsitz.“ Wie viele andere emigrierte Roth 1933 nach Frankreich, wo er bereits 1939, im Alter von 45 Jahren arm und alkoholsüchtig starb.

Vom September bis Dezember 1926 bereiste er die Sowjetunion, wo er angesichts des realexistierenen Kommunismus davon Abstand nahm, damit zu sympathisieren. Mai bis Juni 1927 Albanien und Jugoslawien, im Herbst 1927 das Saargebiet, Mai bis Juli 1928 Polen und Oktober/November 1928 Italien.

„Roth vertritt (in seinen Romanen) auch die Position des journalistischen „Handwerkers“. Roth war seinen Zeitgenossen in erster Linie als Journalist bekannt und journalistische Arbeiten machen gut die Hälfte seines Werkes aus. Roths Zugehörigkeit zur Neuen Sachlichkeit – die ja eine Gegenbewegung zu dem die Literatur der Weimarer Zeit prägenden Expressionismus war – leitet sich vielleicht eben auch davon ab, dass Roth kein Expressionist war. Am Sprachexperiment „Expressionismus“ nimmt Roth nicht teil, sondern bleibt in seinen (meisterlich verwendeten) sprachlichen Mitteln konservativ.“ (Wikipedia)


Quellen

http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Roth (ausnahmsweise ein guter Text)

http://www.josephroth.de/index.html

http://cafe.twoday.net/stories/4971919/


Einzug in Albanien

Das Meer ist still, die Wolken hängen festgenagelt am Himmel wie Bilder an der Wand, auf dem Wasser schwimmt ein Geisterboot ohne Schwanken, an einem unsichtbaren Seil, dem Schiff entgegen, um mich abzuholen. Es sind nur zwei an Bord, die nach Albanien gehen: ein Mann, der im Lande der Bärte Gilette-Apparate verkaufen will, und ich.

Dort, wo der feste Boden beginnt, steht eine kleine, hölzerne Hütte, mit einem idyllischen Schornstein, aus dem der Rauch an einem Lineal emporsteigt. Es ist sieben Uhr morgens, bewaldete, grüne und kahle, stahlblaue Berge umrahmen den Horizont, Lerchen schwirren verborgen im blauen Glanz des Himmels, in der Hütte liegt ein Gästebuch, wie in manchen Sehenswürdigkeiten, vor dem Buch sitzt ein Mann in schwarzer Uniform, dreht sich eine Zigarette und ist die albanische Grenzpolizei. Des Alphabets kundig, aber des Schreibens ungewohnt, sitzt er da und vertreibt den Ankommenden die Zeit mit der Lektüre der Pässe. Ein buckliger Levantiner wartet im Fordwagen, den er zu steuern gedenkt, bis der Polizist mit dem Studium fertig ist. Ich erlasse ihm den größten Teil der Prüfung und unterschreibe mich selbst.

In einer undurchsichtigen Wolke aus Staub, im Donner platzender Pneumatiks, empor- und zurückgeschleudert von echten Fordspiralen, fahre ich die Landstraße entlang, Tirana entgegen. Sooft ein Pneumatik ausgewechselt werden muß, steige ich aus, sehe zu, wie der Staub sich verzieht, wie die Kulissen der Landschaft sichtbar werden, Berge aus einem gespenstischen Violett, Wiesen aus doppelt übermaltem Grün, ein Himmel aus stabilem Blau, ein Himmel aus Stoff, ein Himmel ohne Fältchen, sauber gespannt, eine gebügelte Wölbung. Arbeiter bessern die Landstraße aus. Immer stehen ein paar Männer gebückt nebeneinander, wie spielende Knaben in einem Kindergarten am Vormittag sammeln sie auf winzigen Spaten oder in bloßen Händen kleine Sandhäufchen, schütten sie in Mulden und Gruben, streuen ein paar Steinchen darauf, benetzen das Ganze mit Wasser aus Gießkännchen und stampfen es fest mit nackten Füßen. Sobald der Fordwagen darübergehopst ist, dürfen sie ihr Spiel von neuem beginnen.

Bald kommen mir Soldaten entgegen. Wie sie marschieren! In khakigelben Doppelreihen, Stahlhelme auf den Köpfen. Rucksäcke auf den müden Rücken, von der Sonne gebraten, schwitzend und singend, marschieren sie für das neue Vaterland nach Durazzo, um zu exerzieren, begleitet von einem albanischen Mars in Ledergamaschen, Oberleutnant- und Extrauniform. Auf den fetten Weiden treibt ein Hirte Wolken aus Lämmern einher. Böcke mit ornamental geringelten Hörnern, schwarze Ochsen, eine Art Vieh der Unterwelt, Herden des Hades. Rechts und links sind Telegraphendrähte gespannt, nicht von Masten getragen, sondern von krummen und kahlen Bäumen, denen man nur Kronen und Laub genommen hat. So wie sie einmal am Straßenrand standen, von Vögeln bewohnt, Stationen abendlicher Winde, so wurden sie zu Telegraphenstangen ernannt, mit kleinen, weißen Töpfchen aus Porzellan ausgestattet und instand gesetzt, Berichte der Journalisten nach Europa zu übermitteln, das Zwitschern der politischen Spatzen. Links am Wegrand zieht sich ein Schienenstrang dahin, schmalspuriges Andenken an die Österreicher im Weltkrieg, heute dem Verderben anheimgelegt und dem Rost hinterlassenden Zahn der Zeit.

Endlich tritt aus einem weißen Häuschen ein schwarzer Polizist, der Deutsch sprechen kann, den Paß an sich nimmt und das Ehrenwort gibt, daß er sich morgen in der Polizei von Tirana vorfinden werde.

Da fängt also Tirana an, die Hauptstadt von Albanien. Rechts eine Moschee, links eine primitive Kaffeeterrasse, auf der Gäste gebraten werden und Feze diskutieren. Die Moschee ist eine Kaserne, Soldaten mit Gewehren bewachen sich selbst. Alle Hotels sind besetzt, Journalisten sind hierhergeeilt, Diplomaten und Abgeordnete, Offiziere aus England und Italien, es tagt das Parlament, Tirana ist eine Sensationsgrube, Verwicklungen liegen auf der Straße, das ganze Land ein Zankapfel. Brave Bürger wandeln in der Mitte der Straße, mit langen Gewehren gegen Sonnenstich ausgerüstet, schwere Trommelrevolver in breiten, oft geschlungenen, roten Gürteln. Die Maulesel, mit dichtgefüllten Körben an den Flanken, flanieren auf dem Bürgersteig und warten, wie Hunde, vor den Läden auf die einkaufenden Herren. Da reitet herrlich der kommandierende General der albanischen Armee, Herr Djemal Aranitas auf edlem Schimmel, kleine, schwarze Schuhputzer fliehen ihm aus dem Weg, ein Knappe folgt ihm, eben hat er die Armee inspiziert, deshalb marschierte er so traurig, kein Staat ohne General, kein General ohne Schimmel. Gold blitzt auf seinen Schultern, und mit lässiger Hand grüßt er Bekannte vom Stammtisch.

Es findet sich ein Mann namens Nikola, der vermietet mir ein Zimmer. Das Bett steht mit allen vier Füßen in Petroleum, um die Wanzen abzuschrecken, das Fenster ist unten zerbrochen und oben ein Moskitonetz, mein Nachbar bläst die Trompete. Er ist Mitglied des Orchesters, das jeden Nachmittag vor dem Schloß konzertiert.

Ein Polizist mit schneeweißen Baumwollhandschuhen wartet in der Straßenmitte auf den Verkehr.

Artikel über Albanien

(Geschrieben an einem heißen Tag)

Albanien ist schön, unglücklich und trotz seiner Aktualität langweilig. Die Berge sind manchmal aus einer unbestimmten, klaren Substanz, man könnte sie für grünbemalte, gläserne Klumpen halten. Nur an trüben Tagen, der Himmel ist dann nicht mit echten Wolken bedeckt, sondern mit einem dünnen Überzieher aus Wolkenstoff bekleidet, fühlt man, daß die Berge Gestein sind. Sie sind massiver geworden, auch unerbittlicher, das ganze Land ist wie ein abgeschlossener Hof, von natürlichen Gefängnismauern eingefaßt, die Freiheit ist ein relativer Begriff, man fühlt deutlich, daß es keine Eisenbahnen gibt, uns in das Jahrhundert zu führen, das unsere Heimat ist, man fühlt, daß Schiffe, zwei Stunden, vier Stunden, zwölf Stunden von hier entfernt, nur einmal in der Woche vor einem albanischen Hafen halten, und die Exotik lastet doppelt grausam als selbstgewählte Pein. Von Berlin aus betrachtet, ist Blutrache interessanter. In ihrer Heimat aber ist sie von Schmutz, Wanzen, finstern Nächten, zerbrochenen Petroleumlampen, fetten Speisen, Malaria-Anfällen, trübem Seegrastee wettgemacht, gleichgültig und selbstverständlich geworden.

Unter solchen Umständen bin ich für Schönheiten der Natur weniger empfänglich als etwa die optimistischen geborenen Touristen. Ich registriere höchstens: stille, blaue Tage von einer erhabenen Einfachheit, voll von einer guten Sonne, die selbst noch den Schatten brät und in jeder kühlen Felsspalte fühlbar ist, ein paar Vögel (die hier selten sind, weil man so fleißig schießt) in der Luft und selbstverständlich auch auf den Zweigen, Wälder von einer unermeßbaren Stille, Tiefe, Unendlichkeit, Vergessenheit. Ein paar Häuser, fensterlos, ringsum geschlossen, taube und blinde Würfel aus Stein, plump, rätselhaft und tragisch, trächtig von Schicksalen und geheimnisvoll verflucht. Auf jedem der Häuser, die so angelegt werden, daß sie einem Mörder Rast, einem Verfolgten Zuflucht, einer ganzen Sippe Sicherheit bieten, liegt der sogenannte Zauber der Unheimlichkeit, dem ich lieber nicht nahe komme. Ohne die Erlaubnis des Hausherrn darf man hier nicht die elendeste Hütte betreten. Hat man aber die Erlaubnis erbeten, so ist die Gastfreundschaft herzlich und unter eigener Lebensgefahr ausgeübt. Sie ist eine schöne Sitte, die Gastfreundschaft, sie führt auch zu den edelsten Beweisen der Menschlichkeit. Aber sie hat freilich ihre guten Gründe in der egoistischen Überlegung der Menschen, die statt einer Gerichtsbarkeit die Blutrache haben, daß man sich irgendwo ausruhen muß, wenn man verfolgt wird, und daß schließlich jeder einmal verfolgt wird. Wenn man konsequent skeptisch denkt, kommt man zu der Überzeugung, daß eine gute Polizei besser ist als Gastfreundschaft.

Mögen mir Albaner und andere Nationen nicht übelnehmen, daß ich einen unproduktiven Konservatismus zu schätzen nicht genug begabt bin. Die Albaner haben leider – neben anderen Eigenschaften, die ich verehre – diese eine, die ich nur verstehe: sie sind ängstlich bedacht, alte Sitten zu bewahren, nicht nur am albanischsten zu bleiben auf Kosten der Menschlichkeit, sondern auch ihre Stammeseigenart auf Kosten der Nation zu pflegen. Diejenigen Albaner, die außerhalb des Landes wohnen, sperren sich freiwillig ab, heiraten nur untereinander und mißtrauen ihrer Umgebung. In Amerika bleiben sie Albaner, sprechen miteinander Albanisch und kehren nach einigen Jahrzehnten zurück, wozu? – um in Albanieneinen Gürtel aus Patronen zu tragen. Sie haben wie manche kleine Völker jene Art von nationaler Treue, die der Nation zum Aussterben verhilft und die nationale Kultur arm erhält. Daher kommt es, daß die albanische Sprache heute noch kein Wort für »Liebe« hat, nicht einmal bestimmte Bezeichnungen für die Farben des Spektrums, kein Wort für »Seele«, kein besonderes Wort für »Gott«, daß die albanische Literatur heute schon reicher, zumindest ein gewisses Abbild des heutigen albanischen Lebens sein könnte, aber immer noch so simpel ist wie etwa die ersten Lieder der europäischen Menschheit und selbst hinter der Entwicklung dieses langsamen Landes zurückbleibt. Die Stoffe der Literatur sind bukolische Familienangelegenheiten. Gleichzeitig mit dem nationalen Konservatismus lebt die Stammesfehde auf Kosten der Nation, religiöser Fanatismus auf Kosten der Religion. Denn die Albaner sind nicht etwa sehr gläubig. Aber ihre Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis allein verführt sie, die Angehörigen der anderen Konfessionen mißgünstig anzusehen.

Ich weiß, daß die meisten »nationalen Eigenschaften« Folgen der unglücklichen Geschichte sind, der jahrhundertelangen bitteren Kämpfe gegen die Türken. Aber Tausende von Albanern gingen freiwillig in türkische Dienste, waren türkische Günstlinge, Feldherren, Beamte, halfen ihr Land unterdrücken und – blieben dabei Albaner. Launen der nationalen Natur! Ein albanischer Major sagte mir: »Es ist noch ein Glück, daß uns die Türken unterdrückten und von ihrer Kultur abgeschlossen hielten. Denn sonst wäre heute die albanische Sprache spurlos verschwunden.« Es war, wie gesagt, ein albanischer Major, der so sprach. Deshalb erwiderte ich nicht, was mir auf der Zunge lag, nämlich:

Was haben Sie davon? Sagen Sie Ihrer schönen Frau: Ich liebe dich! auf albanisch. Wäre es nicht besser, auf türkisch alles zu sagen als auf albanisch nur die Hälfte? Es ist ein Verbrechen, eine Nation zu unterdrücken. Darin stimmen wir beide überein. Aber das negative Resultat dieser Unterdrückung, das in der zufälligen Erhaltung einer wissenschaftlich interessanten Sprache besteht, gerade deshalb zu loben ist kindischer und falscher nationaler Stolz. Das aber sagte ich nicht.

Ich kam durch Städte von einer erhabenen Unheimlichkeit, in Städte von einer einfachen, großen Trauer. Ich sah Elbassan. Es ist eine der ältesten Städte des Landes. Ihre steinernen Häuser in steinernen Höfen, in steinernen Gärten haben die Monumentalität des Todes und gleichzeitig seine idyllische Trauer. Es gibt nichts Ergreifenderes als dieses Grün zwischen Steinen, dieses weiche, nasse Moos in den Furchen und Sparren, die Blüte des Moders und des Nichts. Der Stein erscheint gleichsam noch steinerner. Die Stadt erinnert in ihren Windungen, mit ihrem gebuckelten Basar, mit ihren Bogengäßchen an eine Art riesigen, launenhaft gegen alle Gesetze gewundenen Schneckenhauses, dessen erster Bewohner verstorben ist und einem Gewimmel lässiger, brauner, malerisch angezogener, auch mit Schmutz und Gebresten behafteter Händler seinen Platz überlassen hat. Übrigens gehören die meisten Häuser von Elbassan dem Herrn Shefgjet Verlaci, dem künftigen Schwiegervater Achmed Zogus. In Elbassan gibt es einen der schönsten, weitesten, grünsten Gebetplätze des ganzen Landes, auf dem am heißen Nachmittag die Priesterschüler und die Priester liegen, der Metaphysik gewidmet. Im Osten sind die großen mohammedanischen Friedhöfe mitGrabsteinen, die an riesige Pilze erinnern, im Süden steht die berühmte, gesprengte Skumlibrücke, weiterhin ein langgestreckter, tiefgrüner Olivenwald, ein Bühnenwald aus einer Märchenvorstellung.

Ich erwähne Kruja. Es ist idyllisch, primitiv. Es erinnert an die ersten Bücher Mosis, an die Geschichte, in der erzählt wird, wie Rebekka zum Brunnen ging. Ein naiver biblischer Jugendflaum liegt über der dörflichen Stadt, in der Töpfe in großen, glühenden, offenen Öfen gebrannt werden, alttestamentarische Topfformen, Henkelkrüge aus unschuldigem Ton, bräunlich-mädchenhaft, mit jugendlich schlanken Hälsen und Hüften und ein bißchen unfertigen, dünnen Trichtern. Auf offenen Feuern kocht türkischer Kaffee. Das Kaffeehaus besteht aus einem Cafetier und aus einer unbeweglichen Waage, auf deren zwei Schalen ein paar Täßchen klirren, gefüllt mit schwarzem, dickflüssigem, süßem Saft. Diese Stadt regiert mit harter Hand ein Gendarmeriekommandant, der früher Bandenführer war (vulgär Räuberhauptmann). Er hat eine schöne Uniform mit goldenen Sternen.

Man begegnet auf den Wegen echt biblischen Szenen: Hirten mit Schals gegen Sonnenbrand, gefleckten Schäfchen, Hütten aus Blättern, Zelten aus geflochtenen Weiden, Männern auf Mauleseln, verschleierten Frauen, die im Gehen stricken. Das Land ist so friedlich, daß man an die gefährlichen Mordsitten nicht glauben will. Dennoch lernte ich einen Mann kennen, der einmal seinen Freund rächen wollte und aus Irrtum einen Unschuldigen erschoß. Er hatte eben Pech. Denn dieser Unschuldige hat zum Überfluß noch sieben Brüder, die alle hinter meinem Mann her sind. Er hat schon mehrere Unterhändler ausgeschickt, aber es dauert, ehe man sich einigt. Seit drei Monaten erwartet er jede Stunde den Tod. Es ist nicht etwa ein primitiver Albaner. Es ist ein Mann, der in Paris als Munitionsarbeiter gelebt hat und zurückgekommen ist, eigens um Blutrache zu nehmen. Obwohl er selbst verfolgt wird, sucht er immer noch den richtigen Mörder seines Freundes.

Kommt man dann in dreivierteleuropäische Städte wie Skutari, Valona, Korça, in Städte mit Stehkragen, Krawatten, Ansichtskarten, Rasierklingen, Goldplomben, Fordautomobilen und Advokaten – so glaubt man noch weniger an die Möglichkeit einer so engen Nachbarschaft von Halbkultur und Heldenepos. Dennoch ist der Bruder des Friseurs ein echter, erfolgreicher Bandenhäuptling. Kommt er in die Stadt, so läßt er sich rasieren, trinkt einen Kaffee und spricht wie du und ich. Menschen sind wir alle.

Die städtischen Albaner sind die furchtsamsten Menschen im Gespräch. Es gehört hier zum Schießen weniger Mut als zum Sprechen. Bevor ein Albaner seine wahre Meinung sagt, schießt er lieber. Er fürchtet die Ohren der Wände. Er sieht in jedem einen Spitzel, hat aber nur zur Hälfte recht; denn nur jeder zweite ist ein Spitzel. Eine albanische »Ochrana«, etwa im Sinne jener festgefügten russischen Organisation, gibt es nicht schon weil jeder albanische Städter, mit Leidenschaft und ohne aufgefordert zu sein, Nachbarn und ihre Handlungen und Wege beobachtet, ein kindisches Vergnügen darin findet, »Geheimnisse« zu entschleiern und in vollkommen offenen und harmlosen Vorgängen gefährliche Geheimnisse sieht. Sie komplizieren sich das Leben, die guten Albaner. Ein Fremder wird nicht etwa besonders beobachtet, sondern mit Leidenschaft und aus primitivem Interesse von allen beobachtet. Viele Albaner, mit denen ich zufällig bekannt wurde, sagten mir auf den Kopf zu und machten dabei ein schlaues Gesicht: »Sie sind ein Journalist« – als hätte ich es zu verbergen gesucht und als müßte ich mich ertappt fühlen. Fragte ich aber: »Was gibt es Neues?« oder: »Was schreibt Ihre albanische Zeitung, die ich nicht lesen kann?«, so zuckten sie mit den Achseln, weil »Neues« sehr gefährlich ist und jedes Wort, das einer »Neuigkeit« ähnlich sieht, einen verraten könnte. Eine ständige Formel ist die Antwort: »Ich weiß nichts Neues! Erzählen Sie mir etwas. Siewissen doch alles!« Dann kann man sicher sein, daß der verschwiegene Albaner sofort zu irgendeiner interessierten Stelle gehen wird, um zu berichten: »Er hat gesagt, daß …« Die Lust dieser Menschen am Spionieren ist ebenso groß wie ihre Furcht, eine Meinung zu äußern. Und so selten äußern sie eine Meinung, daß sie mit der Zeit jede eigene aufgeben und nur fremde anhören. Denn wozu eine Meinung, die man verschweigt? An die Stelle einer politischen Überzeugung tritt politisches Parteigängertum, an die Stelle eines Kampfes die Konspiration, an die Stelle des Worts die Andeutung, an die Stelle der Vorsicht die Furcht. In diesem Land ist kein Regierender sicher und kein Regierter. Es gäbe keine öffentliche Meinung – selbst wenn sie gestattet würde. Im Laufe der langen Jahrhunderte haben die Albaner jede Freude am Recht zur öffentlichen Meinung verloren. Sie machen selbst aus unzweideutigen Offenheiten heimliche Rätsel. Gefahrlose Dinge goutieren sie nicht.

Ihre Tugenden sind Höflichkeit, Stille, Sanftmut, Bescheidenheit. Ihre gefährlichste Eigenschaft: die Liebe zum Geld. Es gibt Gegenden, in denen die Bauern Goldhaufen vergraben haben und immer weiter fleißig Gold sammeln. Vielleicht ist ihre Genügsamkeit zur Hälfte Geiz. Sie sind infolgedessen weniger arbeitsfaul als schwach. Sie leisten viel weniger als ein Europäer, weil sie schlechter genährt sind. Ihre Bedürfnislosigkeit grenzt an Unsinn. Ihre Bescheidenheit ist traurig und bedrückend – ebenso bedrückend wie das frauenlose Leben in den Städten, in denen man tagelang keine Frau sieht, keine helle Stimme hört. Das Leben ist enterotisiert, die Liebe ist degradiert zur häuslichen Tugend, und ein Spaziergang ist langweilig wie ein Weekend.

Welch ein aktueller Boden! …