Ein meiner großen Wünsche war, mich einer echten Ayurveda-Behandlung zu unterziehen. Ich bildete mir ein, dass ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was Ayurveda ist. Mein Ziel war Sri Lanka. In Cochin/Indien entpuppte sich so einiges von meinen Vorstellungen als mindestens unzureichend, einiges davon war schlicht falsch.
Die Heilpraxis Ayurveda grüßt uns aus einer geradezu urzeitlichen Entfernung von mindesten 6.000 Jahren, als Heiler in Indien angefangen haben, eine holistische Heilmethode, ja, eigentlich eine heilige Lebensweise zu konzipieren. Worum es geht, lässt sich nicht so einfach zusammenfassen. Im Grundsatz geht es jedoch darum, dem Menschen zu einem vollständig ausbalancierten Leben zu verhelfen, in dem er einen festen Platz im Einklang mit der Natur und den Elementen einnimmt. Ayurveda ist allumfassend. Sie beschreibt eine tägliche Hygieneroutine (Augenwäsche, Ölziehung (Mund), Zungensäuberung, u.v.m.), Schlaf- und Wachregeln, Meditation und vor allem Ernährung.
Diese über Jahrtausende entwickelte Lehre ist bereits vor 5.000 Jahren schriftlich festgehalten worden. Die Schriften verstauben nicht irgendwo, sondern werden extensiv ausgelegt und praktiziert. Hier und da werden Modernisierungen vorgenommen. Die Ayurveda-Lehre nimmt einen wichtigen Platz innerhalb der berühmten, heiligen Schriftsammlungen, den in Sanskrit verfassten Veden, die selbst „Schriften des Wissens“ sind. Sie zählen zu den ältesten Schriftstücken der Welt.
In Sanskrit bedeutet „Ayur“ Leben und „Veda“ Wissen. Ayurveda, das Wissen vom Leben, erfüllt daher eine große Aufgabe sowohl der Heilung als auch der Bewahrung des „guten Lebens“, der Gesundheit, die unsere moderne Medizin und Wissenschaften ganz anders auslegen als das uralte Ayurveda, das als eine Art Geheimlehre praktiziert wurde. Bis heute wird Ayurveda in Indien von einer Generation auf die nächste innerhalb einer Familie beziehungsweise innerhalb einer Kaste vererbt. Zwar ist das Kastenwesen seit der indischen Unabhängigkeit von 1947 offiziell aufgehoben, doch die Zugehörigkeit spielt im täglichen Leben der Inder weiterhin eine große, tief in der Mentalität verwurzelte Rolle – auch wenn viele Inder das öffentlich verneinen werden. Für die Kontinuität des Ayurvedapraxis war dieses Kastensystem wahrscheinlich von rettender Bedeutung.
Viele im Westen und sicherlich einige wenige in Indien halten Ayurveda für eine Pseudo-Medizin oder Hokuspokus. Letzteres ist sie sicherlich nicht, auch wenn es moderner Wissenschaft schwerfällt, unter Laborbedingungen ihre Wirksamkeit nachzuweisen. Für die Inder, zumal jene im Süden des Subkontinent, ist Ayurveda „die alte Medizin“ und der westlichen ebenbürtig. Fest steht, dass einiges seinen Weg von Indien nach Europa gefunden hat, was ursprünglich Ayurvedawissen war und nun zum medizinischen Kanon gehört, wie beispielsweise die plastische Nasenchirurgie. Fest steht auch, dass es solche und solche Ärzte gibt. Manche sind Scharlatane, andere wiederum einfach unbegabt oder fahrlässig, andere wiederum hervorragend. Nicht anders ergeht es auch den Ayurvedapraktikern und der hilfesuchende Patient hat die Qual der Wahl, insbesondere bei der großen Auswahl, die sich ihm im Bundesstaat Kerala bietet.
Welche Bedeutung Ayurveda für die Bevölkerung hat, und welche Stellung es innerhalb der westlichen Medizin einnimmt, kann man sich mit einem Blick auf die Tafel des renommiertesten Krankenhauses Cochins, des Aster Medicity, wo unter vielen Disziplinen der westlichen Medizin auch Ayurveda zu finden ist.
Kottakkal – eines der renommiertesten Hospitäler für Ayurveda
Wer nach Cochin beziehungsweise Ernakulam kommt und sich eine Ayurvedakonsultation wünscht, der sollten für den Anfang es mit Kottakkal versuchen. Dieses Krankenhaus ist wohl beleumdet und hat eine ständig besetzte Praxis. Man zieht einfach eine Nummer und wartet bis diese auf dem Display erscheint. Wir taten das. Man kann aber – falls man einen Tipp bekommt – einen bestimmten Arzt oder Ärztin im Voraus buchen.
Ein echter Ayurvedaarzt wird zunächst den Puls lange und genau fühlen. Das ist die Königsdisziplin der ayurvedischen Diagnose, ohne diese kein Dosha bestimmt werden kann. Und ohne die Bestimmung des dominanten Doshas gibt es keine Bestimmung der Erkrankung, ergo auch keine Heilung. Doch das ist bei weitem nicht die ganze Diagnose. Ein klassischer, guter Ayurvedamediziner wird den Urin und den Stuhl des Patienten bestimmen, oder zumindest dazu Fragen stellen. Daneben gibt es die Gesichtsdiagnose, die Augen-, die Stimmdiagnose, aber auch die Art zu sprechen findet diagnostische Beachtung. Schließlich wird die Haut betrachtet und wie sie sich anfühlt. Natürlich fragt der Ayurvedaarzt seinen Patienten ganz genau aus, wie er oder sie sich fühlt und welche Probleme sie plagen. Verläuft die Konsultation ausführlich, so kann sie über eine Stunde dauern.
Was ist mein Dosha und warum habe ich das?
Jeder Mensch und Tier hat nach Ayurveda eine bestimmte Konstitution. Diese wird wiederum von drei „Energien“ bestimmt: Vata, Pitta und Kapha, die als Doshas bezeichnet werden. Eine oder zwei dieser Energien dominieren den jeweiligen Menschen, obwohl in der Theorie jeder aus einer ausbalancierten Trias bestehen sollte. Davon ausgehend bestimmt der Doktor seinen Patienten als Pitta-, Vata- oder Kapha-Typen. Um es etwas komplizierter zu machen, gibt es auch noch Mischkonstellationen. Ich bin zum Beispiel Vata-dominante Person mit einer Pitta-Mitkonstellation, also ein Vata-Pitta-Typ, bei dem beide Doshas aus den Fugen geraten sind… ganz schlecht, da widersprüchlich in der Behandlung.
Ayurveda ist eine komplexe Lehre von Mensch und seiner Verbindung zum Kosmos, womit vor allem die Verbindung zur Natur und den Göttern, daneben aber auch zu den Planeten gemeint ist. Wie in allen ursprünglichen (vorchristlichen) Vorstellungen geht es auch bei Ayurveda um eine Widerspiegelung des Großen im Kleinen und den daraus resultierenden Verbindungsfäden. So bestimmen die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Ether (Luft) auch den Menschen in seinem Innersten und sind für bestimmte Körpervorgänge zuständig (Herz, Verdauung, Blutkreislauf etc.).
Krankheiten werden in diesem Verbindungskosmos als Resonanz- und Gleichgewichtsstörungen in den Zusammensetzungen dessen, was den Menschen im Innersten ausmacht, betrachtet. Nach Ayurveda verfügt jeder über eine angeborene Konstitution, die er teils durch seine Eltern, teils durch den Zeitpunkt seiner Geburt erbt. Diese nennt man aus dem Sanskrit Prakruti, womit psychische, physiologische und mentale Komponenten eingeschlossen sind. Mit der spezifischen Konstitution gehen auch bestimmte Anfälligkeiten für Krankheiten einher, weswegen es für einen Ayurvedapraktiker so wichtig ist, die Konstitution beziehungsweise das Dosha seines Patienten zweifelsfrei zu bestimmten.
Zusammengefasst: Prakruti als die jeweilige Konstitution des Menschen, die von drei „Körperenergien“, den Doshas, gesteuert wird. Um genau zu sein, bedeutet dosha im Sanskrit „Fehler“ oder „etwas, was Probleme bereiten kann“. Die drei Doshas machen unser Wesen in jeder seiner Dimension – Psyche, Physis, Mentalität (Charakter) – aus, aber nur einer oder höchstens zwei sind bei einem Menschen (oder Tier) dominant. Nach diesem dominanten Dosha, als der „Energie, die Probleme bereiten kann“, wird ein Ayurveda-Arzt daher zunächst suchen, um von da aus zu bestimmen, wie es mit der Balace bestellt ist. Denn selbstverständlich geht es uns nur dann gut, wenn alle an unserer Konstitution beteiligten Doshas in einem bestimmten Gleichgewicht liegen.
Die Doshas:
- Pitta (Galle): Ist mit dem Element Feuer verbunden und steuert das endokrine System. Sie ist für alles zuständig, was die Verdauung betrifft. Da nach Ayurveda die Gesundheit im Darm sitzt, ist die Pitta-Kostelation die Königin der Doshas. Das hat sich übrigens auch bis zu unserer westlichen Schulmedizin herumgesprochen.
- Menschen, die von Pitta gesteuert sind, sind „feurig“, reden viel und gerne, können andere begeistern, sind überaus intelligent und leben in jeder Hinsicht schnell. Ist ihr Dosha aus dem Gleichgewicht geraten, können sie Verdauungsprobleme, Entzündungen, Geschwüre, Arthritis, Sodbrennen und ungesteuerte Wutanfälle bekommen.
- Vata (Luft, Wind): Ist mit dem Element Luft und Raum verbunden und betrifft jede Art von „Körperbewegung“, womit auch die Durchblutung, der Kreislauf und die Atmung gemeint sind.
- Vata als die Ether-Energie ist mit Körperbewegungen verbunden, einschließlich Atmung und Durchblutung. Vata-energetische Menschen, also jene, bei denen das Vata-Dosha die anderen dominiert, sind kreative, originelle, ungebundene und lebhafte Querdenker. Ist ihr Dosha aus dem Gleichgewicht geraten, womit meistens davon zu viel im Körper tätig ist, dann können unter anderem folgende Erkrankungen zum Ausdruck kommen: Gelenkprobleme, trockene, spröde Haut, Verstopfungen, Angstzustände und Depressionen.
- Kapha (eigentlich „Schleim“; Erde/Wasser): Diese Energie ist schließlich mit Erde und etwas Wasser verbunden. Sie steuert dementsprechend Wachstum und gibt Kraft und ist mit den Körperregionen: Rumpf, Brust und Rücken verbunden. Kapha-Menschen sind grundsolide, geerdete, ruhige und belastbare Typen. Ihre Konstitution ist stark, ausgeglichen und in jeder Hinsicht bedachtsam. Geraten sie aus dem Gleichgewicht, drohen Fettleibigkeit durch zu langsame Verdauung, Diabetes, Gallenblasenprobleme, Nebenhöhlenentzündungen und allgemeine psychische Unsicherheit bis zu Depressionen .
Mein Dosha ist aus dem Gleichgewicht! Was tun?
Laut Ayurveda geraten die Doshas aus dem Gleichgewicht durch verstopfte Körperkanäle, unausgeglichenen Energiefluß und Vergiftung des Darms, was auch eine Art Kanalverstopfung ist. Die Faktoren, die dafür verantwortlich sind, liegen an erster Stelle in falscher Ernährung und der Hauptdosha unzuträglichen Lebensweise. Daneben wird das Dosha von Jahreszeiten und Spannungen beeinflusst wie dem Berufs- und Beziehungs- oder Situationsstress. Jede auf den Menschen einwirkende Energie (durch psychischen Druck, Nahrung) erzeugt eine Antwort im Körper.
Nach ayurvedischer Überzeugung ist die Nahrung, also alles, was in unserem Magen und Darm landet, „Energie“, die sowohl unsere Muskeln, Gelenke, Knochen und das Hirn in der Funktion oder Dysfunktion bestimmt. Essen ist daher im Ayurveda nicht einfach bloß Nahrung, sondern gleichzeitig auch Lebensspender und Medizin in einem. Das macht in meinen Augen Ayurveda auch so spannend und, wie man sich spätestens jetzt denken kann, auch so kompliziert. Will man ohne einen Arzt gut durchs Leben kommen, so ernährt man sich nach den Ayurvedagrundsätzen und ergänzt diese durch eine bestimmte tägliche Lebensroutine. Dazu gehört beispielsweise das sehr frühe Aufstehen, dementsprechend auch ein frühes Zubettgehen (vor 22:00), Gurgeln mit Kokosölen (das sog. Ölziehen), Ölanwendung für die Nase (gen. Nasya), tägliche Selbstmassage, Yoga und Meditation. Da muss man schon sehr diszipliniert sein, damit einem der Tag nicht für alles Notwendige zu kurz gerät. Über Ayurveda sind seit 5.000 Jahren Bücher geschrieben worden, einige neueren Datums findet man in jeder Sprache Amazon und Google.
Wird man jedoch krank (Influenza, hoher Blutdruck, Diabetes, Krebs, Arthritis etc.) so geht man am besten zu einem staatlich anerkannten Ayurveda-Hospital und lässt sich analysieren. Versorgt wird man anschließend mit einer Unzahl an verschiedenen Medikamenten und einigen Anwendungen, die über Wochen eingenommen oder durchgeführt werden müssen. Natürlich kommt dann auch das Dosha-richtige Essen zur Sprache. Milch und Butter, daneben Kokosöl und Sesamöl, sind die wichtigsten Grundingredienzien der Ayurvedaschule, wobei Kokos und Sesam für die speziellen Ölmassagen und ähnliche Anwendungen verwendet werden. Kokosöl „kühlt“ und Sesamöl „wärmt“. Öle spielen grundsätzlich eine sehr wichtige Rolle in der Ayurvedamedizin. Sie sind sowohl Trägersubstanzen als auch Heilmittel an sich.
Dabei sind sie nicht bloß das, was sie sind, sondern ändern ihre Zwecke je nach Aggregatzustand. So ist Milch nicht gleich Milch und Butter nicht gleich Butter. Die Milch, von der Ayurveda spricht, kommt von traditionellen indischen Kühen und Wasserbüffeln. Sie ist im Urzustand doppelt so fett wie die Milch unserer Kühe. Bei den Kühen handelt es sich um verschiedene Zebu-Subrassen (Bos indicus) – das sind die großen Rinder mit dem Buckel wie zum Beispiel die „Brahman“ in den USA -, ob heilig oder nicht, spiel bei Ayurveda keine Rolle. Auch die Wasserbüffel liefern Milch (und Fleisch), die sowohl getrunken als auch zum traditionellen Käse, dem Paneer, verarbeitet wird. Dieser liegt geschmacklich zwischen italienischem Mozzarella (den man in Indien auch bekommt) und Tofu (der seltener zu finden ist). Die Büffelmilch ist sehr typisch für Indiens Milchgewohnheiten, wobei sie mittlerweile selten pur und vielmehr „toned“ getrunken wird. Dieses englische Wort beschreibt ein in Indien entwickeltes Verfahren, bei dem, vereinfacht gesagt, in der Büffelmilch der sehr hohe Prozentsatz an Fetten reduziert und gleichzeitig mit Kuhmilch gestreckt wird.
Die Milch wird sowohl als Trägersubstanz als auch Medizin-an-sich verwendet. Sie wird je nach Erkrankung entweder lauwarm oder nach mehrmaligem Kochvorgang getrunken. Honig wird nicht wie bei uns als „gesunder Süßstoff“ verwendet, sondern gleicherweise als Medizin und niemals in einem warmen oder gar heißem Getränk zu sich genommen! Es gibt Honig von sogenannten „small bees“ als Wild- und Rohhonig und auch viele Honigsorten von großen, heißt: europäischen Bienen, die zusätzlich mit Kräutern angereichert werden. Nach Ayurvedagrundsätzen verändert das Abkochen oder Hitze überhaupt wesentlich die Beschaffenheit und damit die Anwendbarkeit der Substanzen. Gerührt, gekocht, gesimmert, hin und her gegossen, mit Kurkuma und Jaggery (Rohzucker aus Palmen oder aus Zuckerrohr) sowie Zinnamon (als Rinde), Nelken und vieles mehr IST Ayurvedamedizin an sich. In diese Kategorie fällt auch das warme (Ayurveda-) Trinkwasser, das bei uns neben „Golden Milk“ (oder „Kurkuma-Latte“) zu einer gewissen Berühmtheit gekommen ist. Wasser wird in Indien daher nicht nur aus hygienischen Gründen abgekocht.
Dem Wasser und der Butter widmet man sich hier ganz besonders zu. Trinkwasser wird häufig aus traditionellen Messing- oder Tongefäßen getrunken. Dabei lässt man das Wasser nach dem Einfüllen in die Kanne eine Zeitlang ruhen und gibt ihm bestimmte Gewürze und Rinden bei, die auch mitgekocht werden.
Butter wird eigentlich nur als sogenannte Ghee (gespr. „gi:“) konsumiert. Ghee ist geklärte, das heißt mehrfach abgekochte und gefilterte Butter. Wikipedia bezeichnet es auf Deutsch als „Butterschmalz“. Wenn es richtig gemacht wird, wird die Sahne der Milch – natürlich der indischen Kühe oder Büffel – hierfür über Tage gesammelt und selbst hergestellt. Es gibt sehr unterschiedliche Verfahren je nach Region, Ghee herzustellen. Zum Kochen, Braten und auch als Dip wird Ghee mehr in den kalten Regionen Indiens, im Norden und Nordosten verwendet, Südindien benutzt eher Kokosöl, daher kommt Ghee in der alltäglichen Küche der Keralesen selten vor. Übrigens, wer möchte, kann Ghee auch selbst herstellen. Das Internet, vor allem wenn man auf Englisch sucht, bietet viele originär indische Rezepte beziehungsweise Verfahren (natürlich auch auf YouTube), vieles ist sehr einfach nachzuvollziehen.
Auch das, was wir gewöhnlich als „Küchengewürze“ bezeichnen, ist in Ayurveda – man kann sich das schon denken – gleichfalls pure Medizin! Da macht nicht nur die Menge, sondern auch die Mischung die medizinische Sprengkraft aus. Gleichzeitig ist in jeder indischen Speise auch eine große Portion dieser Medizin enthalten. An erster Stelle ist Kurkuma, hier Haldi, genannt. Ohne das gelbe Pulver oder als frische Wurzel geht in Kerala in der Küche gar nichts. Auf lange Lebens-Sicht betrachtet, nehmen Inder also überdurchschnittlich viel Medizin zu sich. Mit ein Grund, warum ihr Immunsystem verhältnismäßig stark ist?
Ayurveda-Küche ist einfach und obwohl sie in unseren Augen nicht soo ansprechend ausschaut, schmeckt sie dann überraschend vielfältig und gut. Es heißt, in einer Mahlzeit sollten alle Geschmacksnerven, genauer: Geschmacksrichtungen, angesprochen werden. Süß, sauer, salzig, scharf… unglaublich, aber die indischen Soßen (=Curry) und Pickels schaffen das und noch vielmehr. Denn anders als bei uns, bestehen die Speisen aus vielen kleinen Speisen, die je nach Gusto mit einem „Träger“ (Fladenbrot, Reis, Idly, Puttu etc.) und Fingern zusammengemischt werden. Es bedeutet auch nicht, dass „Süßes“ auch süß ist, sondern dass der entsprechende Geschmacksnerv es als „süß“ empfindet. Inder würde es sowieso als „wärmend“ beschreiben.
Wie gefährlich ist Ayurveda oder welche Stellung nimmt sie in Indien ein?
Die Antwort auf die Frage ist nicht ganz einfach. Man könnte sich vielleicht darauf verständigen, dass ayurvedische Medizin vermutlich weniger Geschädigte aufzuweisen hat als die westliche Medizin mit ihren vielen, teilweise sehr gefährlichen „Nebenwirkungen“. Es heißt, über 80 Prozent Inder, in dem Bundesstaat Kerala sollen es über 90 Prozent sein, verwendet ayurvedische Medizin, sucht Ayurvedaärzte auf und macht ayurvedische Anwendungen wenigstens ein paar Mal im Jahr. Wie stark der ayurvedische Lebensgedanke das normale Leben der Inder durchwirkt, lässt sich an jenen Selbstverständlichkeiten erkennen wie der Mundhygiene (Ölziehen, Zungenwäsche), Schlaf-Wach-Gewohnheiten, Kräuteranwendungen aus der eigenen Küche, aber auch der eigene Gemüsegarten ohne Pestizide sowie allerlei Merksprüche und Anweisungen zum guten Leben, beispielsweise auf den ersten Seiten von Notizbüchern und (Schul-) Heften wie hier:
Was Ayurvedamedizin im Westen in Verruf brachte, waren beziehungsweise sind Nachrichten vor allem aus den USA über geschädigte Personen nach Verwendung ayurvedischer Medikamente. Grund dafür sind Heilmittel, die Blei, Quecksilber oder Arsen beinhalteten. In den allermeisten bekannten Fällen handelte es sich um Personen, die die gewünschten Pillen aus dem Internet bezogen. Diese Produkte wiesen zum Teil hohe Werte an genannten Metallen auf. Eine schwerwiegende Bleivergiftung erfuhr eine Patientin, die in Sri Lanka zu „Kur“ war. Was ist dran an diesen schockierenden Berichten? Was machen diese Schwermetalle und Gifte in Kräuter-basierten Ayurvedamedikamenten?
Einer der Gründe für diese unglücklichen Fälle liegt an den dubiosen Herstellungsprozessen jener indischen Firmen, die im Internet ihre Produkte direkt ins Ausland verkaufen. Inder haben „ihre“ teilweise lokal agierenden Ayurvedaproduzenten, denen sie seit Generationen oder durch gute Mundpropaganda vertrauen. Viele der Ayurvedamediziner machen ihre Pillen und Tinkturen selbst, oder haben einen Lieferanten, der nach ihrem Rezept entsprechende Produkte herstellt.
Nicht ausgeschlossen ist auch, dass dem indischen Körper ein wenig Schwermetalle oder Arsen nicht (mehr) schaden. Schließlich sind diese medizinischen Produkte seit über 6.000 Jahre im Umlauf. Fest steht, dass keine massiven Bleivergiftungen in Indien gemeldet werden, zumindest nicht durch Ayurveda…
Zum anderen gibt es innerhalb der ayurvedischen Produkte eine Anzahl an Naturprodukten, die kleine Mengen der genannten problematischen Metalle gewollt beinhalten, was kein Geheimnis oder Verunreinigung ist. Im Hintergrund stehen die heiligen Schriften, die die Bedeutung bestimmter Metalle als Wirkstoffe hervorheben. Nach einer bestimmten in den uralten Texten beschriebenen Methode der Herstellung wird die schädigenden Wirkungen der Metalle unschädlich gemacht, sie werden laut Ayurveda so zu sagen ent-giftet und nur ihre heilenden Kräfte in den Aschen – es handelt sich dabei um sogenannte Ascheprodukte – zu Anwendung kommen sollen. Diese Reinigungsprozesse heißen Samskaras und für Metalle Shodhanas. Ähnliche physikalisch-chemischen „Reinigungen“ oder Transformationen sind auch aus anderen alten Heilpraktiken bekannt. Die Chinesen haben bis heute ihr Pao Zhi und auch in Europa findet man ähnliche Verfahren in alten Naturheiltexten aus klösterlichen Schriften, oder auch ähnlich in den Schüssler Salzen und Globuli, wenn auch hier unschädlich gemacht durch starke Potenzierungen.
Berichte, die ich über gemeldete Vergiftungen finden konnte, liegen zwischen 1978 und 2008. In dieser Zeit registrierten die Behörden weltweit 80 Fälle von Bleivergiftungen, die mit ayurvedischen Mitteln in Verbindung gebracht werden. Die US-amerikanischen Kontrollbehörden meldeten auch 2012 erneut einige Fälle von Bleivergiftung durch entsprechende Medikamente aus der Ayurvedamedizin. Es handelt sich dabei zumeist um die sogenannten Bhasma-Produkte, die aus Asche zusammengesetzt sind. Die Ayurvedaärzte, die in verschiedenen regionalen oder staatlichen Gruppen zusammengefasst sind (bspw. Ayurveda Medical Association (AMA) in Nord-Kerala und National Ayurveda Medical Association (NAMA) in Süd-Kerala), erklären die Vergiftungsfälle durch „unsachgemäße Herstellungsverfahren, Verunreinigungen, unsachgemäße Verwendung der ayurvedischen Medizin, schlechte Qualität der Rohstoffe und unsachgemäße Verfahren“, die durch Scharlatane vorgenommen wurden (Wiki englisch).
Die indische Regierung hat recht schnell auf die Vorwürfe und Klagen aus dem Ausland reagiert, und zwar mit einer typisch indischen Lösung. Die Firmen sind nun dazu verpflichtet, alle Substanzen – und vor allem die gefährlichen Metalle! – mit Mengenangaben auszuweisen. Sehr EU-mäßig. Weniger EU-mäßig ist hingegen: Sie sind nicht verpflichtet, diese Substanzen herauszunehmen. Genauso indisch ist die Entscheidung, dass die meisten ayurvedischen Medikamente nicht für den Export zugelassen sind. Basta. So bleibt Blei, Arsen und Quecksilber im Lande und vergiftet offenbar … hier niemanden.
Alles in allem glaube ich – ohne es belegen zu können, aber wer kann das schon -, dass die Vergiftungen und Todesfälle, die durch Medikamente der westlichen Schulmedizin, die Zahl der gemeldeten durch Unwissen und schlechte Verarbeitung der Ayurvedamedizin verursachten Schäden sich die Wage halten, wenn nicht gar übertreffen. Der Unterschied zwischen heilender und vergiftender Medizin ist oft nur eine Gratwanderung. Und zu Recht weisen die indischen Ayurvedaärzte, dass es bei einer seit über 6.000 Jahren permanent praktizierten Ayurvedamedikation in Indien zu unzähligen und nicht zu verheimlichenden Vergifftungs- und Todesfällen hätte kommen müssen, wenn die ayurvedische Medikation so gefährlich wäre.
Nachdem wir das nun geklärt haben, haben wir die uralte Ayurveda-Heilmethode an uns selbst ausprobiert. Dazu mehr im nächsten Beitrag, der als Foto-Geschichte in wenigen Tagen erscheinen wird, und zwar unter dem Motto „Wenig(er) zu lesen, mehr zu sehen“.
Jürgen Christ
Sehr ausführlich und interessant berichtet, für mich öffnet sich eine neue Tür.
Ich bin auf eure Reiseberichte gespannt und wünsche eine gesunde und erfolgreiche „Überfahrt“.
Mit seglerischen Grüßen
J.Ch.
Joanna
Hallo Jürgen, vielen herzlichen Dank! Wir freuen uns immer über Kommentare. Und danke für die Überfhrtswünsche – diese brauchen wir natürlich dringend. Wir halten alle Interessierten auf unser zusätzlichen „page“ unter dem „Red Sea Passage“ Reiter (s. Menüleiste) auf dem Laufenden.
Mit herzlichen Grüßen Joanna und die Crew