Warum man wandert…
Joanna, 01. 06. 2010

„Gehen ist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.“

Werner Herzog – der herausragende deutsche Nachkriegsregisseur – hält das Wandern für eine heilige Lebensnotwendigkeit.
Befreundet mit Bruce Chatwin hat er darin einen Gleichgesinnten gefunden. Für beide gibt es „den heiligen Aspekt des Gehens“.

Er und ich glauben beide, daß Gehen nicht einfach nur einen therapeutischen Wert besitzt, sondern eine poetische Handlung ist, die die Welt von ihren Übeln heilen kann. Er [Herzog] resümiert seinen Standpunkt in einer strengen Erklärung:
‚Gehen ist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.‘

[Bruce Chatwin über Herzog]

Als Herzog eines Tages 1974 hörte, daß Lotte Eisner – Filmkritikerin, Mitarbeiterin von Fritz Lang (in Berlin) und geistige Wegbereiterin des Nachkriegsfilms in Deutschland sowie Mitgründerin der Cinémathèque in Paris der 30er Jahre – schwer erkrankt sei oder sogar im Sterben läge, machte er sich zu Fuß auf, um sie auf diese Weise zu heilen.

Chatwin berichtet darüber folgendermaßen:

„[…] Begab er sich zu Fuß durch Eis und Schnee von München nach Paris, im Vertrauen darauf, daß er ihre Krankheit irgendwie wegwandern könne. Als er schließlich ihre Wohnung erreichte, war sie genesen, und sie lebte noch weitere zehn Jahre.“

Solvitur ambulando

Patrick Leigh Fermor ist, mehr noch als Chatwin, ein Anhänger der augustinischen Solvitur ambulando„. Es ist ein Ausspruch des Hl. Augustin (Aurelius Augustinus Hipponensis) überliefert. Wörtlich genommen bedeutet er soviel wie „geheilt/gerettet durch das Gehen/Wandern„. Wandern ist somit nicht nur eine physische Betätigung, sondern auch eine Stimulation kreativer Kräfte und vielleicht sogar eine Grundvoraussetzung für schöpferische Prozesse überhaupt.

Solvitur ambulando ist „jene melancholische Nomaden-Philosophie, nach der das Wandern als Heilung und Katharsis zu betrachten ist, als eine poetische Handlung, als einzig mögliche Lebenshaltung des Rastlosen, als Grundlage intensivsten Erlebens.“

[Wolf Reiser zu Fermor in SZ]