Oscar Niemeyer – Über psychische Lüftung, Nicht-Orte und Kathedralen der Kunst

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Schaut man in der Penthouse-Wohnung des Edefício Ypiranga, Avenida Atlântica 3940, aus dem Fenster, überblickt man die sanft geschwungene Form der Copacabana. Hier oben hatte einer der letzten großen Architekten der klassischen Moderne, Oscar Niemeyer, seine Büros eingerichtet. Das Gebäude wurde 1935 im Art-Deco Stil erbaut und zeugt wie viele andere Gebäude in Rio von einer Vielfalt der Fassaden. So unterschiedlich wie die Gesichter (faces) der brasilianischen Gesellschaft, so vielfältig die Fassaden und Bauformen der Häuser Rios.
Sicher, in den letzten Jahrzehnten setzte sich auch hier immer häufiger das Diktat des schnöden Mammons gegenüber ästhetischen Ambitionen durch. Doch beim Spaziergang durch Botafogo, Copacabana oder Ipanema kann sich das architektonisch interessierte Auge kaum sattsehen. Es mag daran liegen, dass Appartmenthäuser in Brasilien einen anderen Stellenwert haben. Wer es sich leisten kann, zieht in Köln in eine restaurierte Altbauwohnung oder in ein frei stehendes Haus am Stadtrand. In Rio oder Sao Paulo sind die Appartmenthäuser die Häuser der oberen Mittelschicht und der Reichen.

Nach dem Prinzip der vertikal gestapelten Ko-Isolationen bilden die Gebäude psychosoziale Immunsysteme gegen das Außen. Man vermeidet den Kontakt mit Individuen der ‚unteren Klassen‘. Jedes der Gebäude besitzt einen Pförtner, hohe Zäune, elektrische Zugangssperren und die Möglichkeit von der Tiefgarage (oder dem Helikopterlandeplatz) direkt mit dem Fahrstuhl in seine Wohnung zu fahren. Le Corbusier forderte für derlei Agglomerationen von ko-isolierten Zellen ein Mindestmaß an „psychischer Lüftung“ zu garantieren. Meiner Meinung nach um so wichtiger, wenn die Einkäufe und das Gassigehen mit dem Hund durch die empregada, die Kinderbetreuung durch die baba (jeweils an den weißen Hemden oder T-Shirts auch auf der Straße zu distingieren), und sonstiger Kontakt mit den kontaminierten Nachbarschaften durch weitere Angestellte wie Reinigungskräfte und Köche besorgt werden. Oscar Niemeyer lernte Le Corbusier über seinen Lehrer Lucio Costa kennen, der später den Masterplan für Brasília entwickelte, während Niemeyer die wichtigsten Gebäude entwarf. Mit Le Corbusier zusammen entstanden die Pläne für das Bildungsministerium in Rio. Costa soll bemerkt haben, Le Corbusiers eigentliches Vermächtnis für Brasilien war jedoch „Niemeyer selbst“.

In Brasília entwarf Niemeyer außer den repräsentativen Bauten wie den Nationalkongress und die Kathedrale, auch die sogenannten Superquadras. Die einzelnen Wohnblöcke sollten jeweils 3000 bis 5000 Menschen aufnehmen und die brasilianische Gesellschaft widerspiegeln. Costa erläuterte die „psychische Lüftung“ so: „Die Anordnung in Vierergruppen werden das soziale Miteinander bis zu einem gewissen Grad fördern und so eine unangemessene und nicht wünschenswerte Segmentierung verhindern.“ Die Idee war gut, jedoch wohnen in den Superquadras ausschließlich Angehörige der Mittelschicht, die unter sich bleiben. Ein Zusammenleben und Austausch mit anderen sozialen Schichten findet nicht statt.

Nach Brasília kommen wir mit dem Schiff leider nicht, daher verholen wir von Rio auf die andere Seite der Guanabara Bucht, nach Niteroi und ankern unterhalb des Museu de Arte Contemporânea (MAC), das, typisch Niemeyer, den Eindruck erweckt, als würde es jeden Moment abheben. Das Gebäude hat einen Durchmesser von 50 Metern und steht auf einem Sockel von nur 9 Meter Durchmesser. Eine geschwungene Treppe führt seitlich (doch was ist seitlich bei einem runden Gebäude) hinauf zum Eingang. Das Museum hat jedoch leider seit einiger (und das bedeutet in Brasilien auch für unbestimmte) Zeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Das Museu de Arte Contemporânea (MAC). Die Kirche Boa Viagem rechts im Rücken des Fotografen.

In Niteroi sind wir erstaunt über die Massen an Autos, die sich durch die Stadt schieben. Dann wird uns klar, dass Niteroi eine Pendlerstadt ist. Arbeiten in Rio und Wohnen auf der anderen Seite der Bucht. Die cariocas, die Einwohner von Rio, sagen über ihre Nachbarstadt, dass das beste, was Niteroi zu bieten hätte, der abendliche Blick auf die Kulisse von Rio sei. Eines haben beide Städte aber gemeinsam: die Lage an der Cloaca Maxima Guanabara. Diese braune Miege ernsthaft für olympische Wettkämpfe anzubieten grenzt an fahrlässige Körperverletzung. Außer Medaillen werden die Sportler vermutlich Hautausschlag in allen olympischen Farben mit nach Hause bringen.

Der Museumsbau des MAC ist ein hervorragender Beweis, wie Architektur mit Landschaft und Natur, mit Topografie und urbaner Kulisse in Wechselwirkung treten kann. Allein die Wahl des Ortes zeigt, wie ein modernes Ufo, eine Kathedrale der Kunst mit einer Kirche aus dem 17. Jahrhundert auf der anderen Seite des Strandes und ebenfalls auf einem Felsvorsprung, eigentlich auf einer Insel, errichtet, in eine gelungene Beziehung treten kann. Ich stelle mir vor, wie die beiden so unterschiedlichen Gebäude glaubhaft ihre Rollen tauschen könnten. An dieser Stelle möchte ich diese Idee der Dioszese und den Kulturverantwortlichen Niterois als ein Projekt vorschlagen. (Die Kirche ist ganz in unserem Sinne der Senhora da Boa Viagem, der guten oder glücklichen Reise geweiht.) Doch Vorsicht ist bei einem solchen Projekt geboten: Bazon Brock hat schon lange gefordert: Beten im Museum verboten!

Dagegen ist das Ensemble des Theaters im Zentrum Niterois, ebenfalls von Oscar Niemeyer entworfen, geradezu ein Beispiel dafür, wie Stadtplaner und Architekten, Investoren, Politiker und vermutlich auch Kulturschaffende es gemeinsam hinbekommen ein spannendes Gebäudeensemble dastehen zu lassen, wie hingeworfen und nicht abgeholt, wie mit dem Schrotgewehr beliebig in die Umgebung geschossen. Umgeben von Busbahnhof und Parkplätzen, Shoppingcenter und zubetonierten Flächen mit katastrophaler Verkehrs- und Fußgängerführung verliert es sich in einem Nicht-Ort (Marc Augé): keine Relationen, keine Bezugspunkte, keine Erinnerung, nur Transitraum, Handel, Verkehr. Apropos Verkehr: Der Fährterminal in Niteroi soll angeblich auch aus der Feder Niemeyers stammen. Ich vermute jedoch eher Werkstatt Oscar Niemeyer oder vielleicht hat der Meister seinen frischen Assistenten diese unbedeutende Aufgabe ausführen lassen.

105 Jahre ist Oscar Niemeyer alt geworden, trotz des täglichen Konsums von Kaffee und Zigarillos in solchen Mengen, dass eigene Plantagen sich für ihn rentiert hätten. An der Wand seines Büros im Edefício Ypiranga hing an der Wand eine handgeschriebene Mahnung an seine Mitarbeiter: „Wir müssen die Welt verändern.“

Fotos unten: Das Theater in Niteroi.