Nekropolis de Arteara – Gräber im Steinfeld

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Die cromagnoiden oder berbischen (man ist sich offenbar noch nicht ganz darüber einig) Ureinwohner von Gran Canaria, die man auf mindestens 30.000 zur Zeit der Conquista zählte, hatten ein sehr eigentümliches Gräberfeld an einem steilen Bergabhang eines nicht minder eigentümlichen Barrranco de Fataga errichtet. Zu beiden Seiten des Barrancos steigen schroffe verwitterte Steilwände hoch, die Überreste eines Vulkankraters sind. Der Barranco selbst bildet eine lange Schneise, die rech genau von Süd nach Nord – von den Playas zu den Zentralbergen der Insel – verläuft und ein bis heute noch Streckenweise fruchtbares Tal bildet.

Auf ca. 600 m. ü. Meeresspiegel am Rande des Barranco und nahe dem heutigen Örtchen Fataga haben die Ureinwohner einen Ort gegründet, der nach den Untersuchungen der Geobotaniker in einen der schönsten und fruchtbarsten Landschaften von Gran Canaria eingebettet lag. Auch diese Kulturlandschaft ist gänzlich den spanischen Eroberern zum Opfer gefallen, denn sie ließen den Barranco zu beiden Seiten hin abholzen. Heute ist das gesamte Land vertrocknet und unfruchtbar. Damals aber muss diese Gegend mit Xerophyten, Palmen und kanarischen Kiefern mit all der Vielfalt an Blumen, Sträuchern, Pilzen etc. bewachsen gewesen sein. Ein kleiner Fluß führtendas ganze Jahr über Wasser und schuf ein spezielles Mikroklima. Diese Gegend war mit einem Wort ein perfekter Ort. Nicht nur zum Leben, sondern auch zum Sterben.

Heute schlängelt sich eine Straße die Steilwände des Barrancos auf und ab und verbindet mehrere kleine Ortschaften miteinander, die es bereits zur Zeit der Altkanarier in einer ähnlichen Weise gab, wie das bereits genannte Fataga. Ein anderer, weiter im Süden liegender Ort ist Arteara, ein winziger Weiler inmitten einer fruchtbaren Oase, so wie man sich das Gesamte Tal zur Zeit der Altkanarier vorstellen muss, versteckt beinahe im meterhohen Schilfdickicht, mit duftenden Zitrusbäumen, Feigen, Gemüsefeldern und Avocados. Die Bäume biegen sich vor lauter Früchten, die auch hier keiner mehr erntet. Es macht einen traurigen Eindruck, wenn Kulturlandschaften nicht mehr genutzt werden. Wovon leben die verblieben Einwohner? Warum lassen sie alles so verkommen? Fragen, die sich mir immer wieder aufdrängen.

Nach der spanischen Eroberung ist der gesamte Bereich des Barrancos (wie die Insel überhaupt) neu aufgeteilt worden. Ich war verwundert, zu lesen, dass diese Areale an Altkanarier vergeben wurden. Hat sich da der Übersetzer verschieben? Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ein fruchtbares Land an die ansonsten enteignete und versklavte Bevölkerung neu verteilt wurde. Dann las ich weiter und erfuhr, dass die Parzellen (groß waren sie wohl nicht) an die Altkanarier aus Fuerteventura vergeben wurden, die bei der Eroberung der Insel mitgewirkt hatten.

Der am häufigsten vorkommender Name im Ort ist “Vera”. Im Jahr 1910 zählte man von 11 registrierten Familien noch sechs mit diesem Nachnamen. Eine Infotafel am Ortseingang klärt uns darüber auf, dass “das Charakteristische an Arteara” die Inzucht ist. In meinen Augen charakterisiert den Ort mindestens genauso gut das saftige Grün seiner Felder und Müll in jeder Form. Überall liegt er, lose oder in Plastiktüten verpackt auf den Gehöften, vor den Türen und Fenstern, auf den Feldern und im Straßengraben herum. Verfängt sich in den Zäunen und Kakteen und liegt am Ortseingang gleich neben den großen Tonnen aufgetürmt. Dazwischen residieren die Alten auf ihren hochgestellten Sitzen, Stühlen und Sesseln thronend und behalten alles im Blick.

Um so näher wir an die “Totenstadt” kamen, desto mehr und üppiger wurden die wilden Salbeibüsche. Sie rochen so stark, wie wir es in Europa von unserem gezüchteten Salbei kaum vermuten würden. Sogar jetzt unter Deck duftet der kleine Salbeistrauß in der improvisierten Blumenvase direkt vor mir immer noch…Kanaren-Salbei (Salvia canariensis).

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Das Reich der Lebenden und das der Toten lagen hier nah beieinander. Dort, wo keine natürliche Barriere vorhanden war, errichtete man damals eine ca. 1 m hohe und 80 cm tiefe Mauer von lose aufeinandergelegten Steinen, die die eine “Stadt” von der anderen trennte. Reste dieser Mauer sind noch vorhanden. Die “Stadt der Toten” umfasste mindestens 800 Gräber, einige schätzen die ursprüngliche Zahl aber wesentlich höher auf 1 000 bis 2 000 Gräber. Dieser Friedhof befindet sich auf einem prähistorischen Geröllfeld, einer Verlängerung der Bergflanke, die vor zig Tausenden von Jahren abgebrochen und als Steinlawine in den Barranco de Fatage abgerutscht ist.

Betrachtet man das Feld heute, so fällt zwar ihre etwas ungewöhnliche, rot-braune Farbgebung auf, die sich von dem satten Grün des unter ihr liegenden Barrancos absetzt, aber ansonsten bedarf es eines geübten Auges, um das Besondere des abschüssigen Areals auf 450 m.ü.M. ausfindig zu machen. Und doch bauten die Altkanarier genau hier eine Totenstadt auf, die sich auf einem Gebiet von über 138.000 qm ausdehnt. Die Nekropolis von Arteara ist somit die größte “Totenstadt” der gesamten kanarischen Inseln. Sie ist nicht nur wegen ihrer Ausdehnung interessant, sondern auch wegen der erstaunlichen Kontinuität in der Bestattungspraxis. Die archeologischen Funde weisen darauf hin, dass der Friedhof bereits im 8. Jh. v. Chr. bestand (ältester vorgefundener Skelett) und bis ins 19. Jh. zu diesem Zwecke verwendet wurde. Man vermutet auch, dass die im 19. Jh. an der Südküste aufgefundenen Leichen von unbekannten Seeleuten hier beerdigt wurden, und das ihre Gräber eine etwas andere Form haben als die übrigen, älteren Grabhügel.

Die überwiegende Form der Gräber erinnert an eine Art Iglu aus Stein. Dabei kann man die Bautechnik eher als pragmatisch und nicht besonders elaboriert bezeichnen: Nachdem die Angehörigen des oder der Verstorbenen sich eine Stelle auf dem Totenfeld ausgesucht haben (oder ihnen eine zugewiesen wurde), wurden die Geröllsteine für die spätere Verwendung beiseite gelegt, dieser rechteckige Bezirk mit Steinen oder auch einer niedrigen Mauer abgesteckt, und eine relativ flache Grube in der freigelegten Erde im Zentrum dieses Areals ausgehoben. Man legte sie mit kleinen Kieselsteinen zur Isolierung des Toten vom Erduntergrund aus und befestigte die niedrigen Seitenwände der Grube mit Steinen. Darin wurde der Leichnam, der wahrscheinlich in “Leichentücher” oder “-felle” gehüllt war, reingelegt und mit flachen Steinplatten abgedeckt. Die Hohlräume zwischen den größeren Steinen aber auch zwischen dem Leichnam füllte man mit Kieselsteinen aus, bevor man anschließend die Grube von oben mit flachen Steinplatten oder Steinen verschloss. Auf diese flache Konstruktion setzte dann die große Steinkonstruktion in Form eines Tumulus auf.

Eine Fotomontage von Roland Weimer (©) versucht uns die ehemalige Totenstadt näherzubringen (s.u.), denn das was wir heute vor uns haben, ist bloß ein trauriges Trümmerfeld, ein nach Plünderungen, Zerstörungswut, Souvenirjagd  und allgemeiner Schändung übriggebliebenes Feld, das so ausschaut, als ob die Steinlawine gerade heruntergekommen wäre, und das der interpretatorischen Arbeit von Archäologen – und der entsprechenden Geldgeber – bedarf.

Nach den Schändungen blieb von den Oberkostruktionen der 800 bis 2000 Gräber nichts erhalten. Nach Ansicht der Historiker und Archäologen ist der kulturelle wie wissenschaftliche Verlust immens. Die Archäologen versuchen seit den 1930er Jahren aus den vorhandenen Resten möglichst viel zu rekonstruieren, um auf die Kultur der Altkanarier zurückzuschließen. So geht man davon aus, dass auf einem Gelände außerhalb der Nekropole, das man Los Goros nennt, die Toten für die Bestattung vorbereitet wurden. Auch hier zerstörten die spanischen Eroberer alles, aber einige Reste weisen darauf hin, dass pflanzliches Gewebe bei der Bestattung wichtig war. Möglicherweise waren einige Toten bekleidet, andere hatte ein Leichentuch.

Ilse Schwidetzky rechnet die in der Nekropolis gefundenen Schädel dem mediterranen Typus zu, schließt den cromagnoiden Typ aber nicht aus. Wie sahen die Altkanarier aus? Langgezogene Körper, relativ kurze Arme und Beine, von einer Körpergröße von 1,65 m. (Wobei in anderen Nekropolen der Insel Menschenskelette von fast 2m Größe gefunden wurden.) Hautfarbe war wahrscheinlich braun, Gesichter eher oval und schmal, schlanke Nasen und – angeblich – ausgeprägte Lippen bei einem kleinen Mund und kleinen Ohren.

Dieses riesige Begräbnisfeld deutet auf einen Glauben an einen Totenreich oder eine Existenz nach dem Tod hin. Man vermutet auch, dass diese Grabstätte nach Sonnenständen oder auch anderen astronomischen Erscheinungen ausgewählt wurde. Denn tatsächlich kann man während des Äquinoktiums (Jahreszeitenwechsel) im Frühling und Herbst das Phänomen beobachten, bei dem die aufsteigende Sonne genau in der Senke der gegenüberliegenden Gebirgskette Amurga aufsteigt und durch diese Absinkung hindurch auf die Nekropole leuchtet und mit einem hellen Strahl die sepultura del rey, die sogenannte „Grabstätte des Königs“, hervorhebt.  Auch Legenden besagen, dass insbesondere ein Grabhügel besonders groß war und dass darin der König bestattet wurde. Vielleicht ist es das Grab – zwar geplündert und später wieder aufgerichtet –, das man noch heute so exponiert im Feld unter der Sonnenerscheinung sieht.

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