Auf El Hierro sind wir endlich am Ende der Alten Welt angekommen. Der Mathematiker und Astronom Claudius Ptolemäus (85-160) aus Alexandria legte in seiner Geographischen Anleitung zur Anfertigung von Landkarten den Nullmeridian durch die Kanarischen Inseln, die Furtunatae Insulae, die bis zur Entdeckung der Azoren im Jahre 1432 als das am weitesten nach Westen vorgeschobene Gebiet der damals bekannten Welt galt. Im Jahre 1634 wurde diese Linie präziser durch die Westspitze El Hierros gezogen. Erst 1884 wurde auf einer Konferenz von Geographen in Washington beschlossen, den Nullmeridian von der Westspitze El Hierros nach Greenwich zu verlegen. In den Seekarten der österreichisch-ungarischen K.u.K. Monarchie war noch im Jahr 1918 der Nullmeridian auf El Hierro verzeichnet und der Verweis auf Greenwich nur zusätzlich angegeben.
Der Nullmeridan – eine imaginäre und willkürliche, oft auch politische Linie. Zu Zeiten, als Kolumbus von den Kanaren Richtung Westen aufbrach, konnte man mit Hilfe der Sonne und der Sterne den Breitengrad bestimmen auf dem man sich auf den Weiten des Ozeans befand. Nicht jedoch den Längengrad. Theoretisch errechnet sich dieser mit Hilfe der Zeitdifferenz zum Abfahrtsort, bzw. der Zeitdifferenz zum Nullmeridan. „Wenn man an Bord eine Uhr hätte, die fehlerfrei die Pariser Uhrzeit anzeigte, bräuchte man unterwegs nur die gültige Ortszeit zu bestimmen und könnte dann an der Differenz den Längengrad errechnen. Dies hier ist die Erdkugel auf der wir leben, Ihr seht, wie die Weisheit der Alten sie in dreihundertsechzig Längengrade eingeteilt hat, wobei man die Zählung gewöhnlich bei dem Meridian beginnt, der durch Hierro, die Insel des Eisens, die westlichste der Kanarischen Inseln geht.“ Umberto Eco, Die Insel des vorigen Tages
Übrigens hat der Name El Hierro oder älter Ferro, nichts mit Eisen zu tun. Auf der Insel gibt und gab es nie Eisen oder Einsenerz. Die Herkunft des Names wird viel diskutiert. El Hierro heißt „stark wie der Fels“ oder „heilig“. Die einzige Interpretation des Namens, die auf Eisen hindeutet, besagt, dass um El Hierro die Missweisung der Kompassnadel besonders gering sei. Was eher für die Abwesenheit von Eisen spräche. Ich weiß nicht, wer sich dies nun wieder ausgedacht hat.
In Umberto Eco, Die Insel des vorigen Tages heißt es weiter: „Auf ihrer himmlischen Bahn durchläuft die Sonne – wobei es auf das selbe hinauskommt, ob sie sich bewegt oder die Erde, wie man es heute will – in einer Stunde fünfzehn Längengrade, und wenn es in Paris Mitternacht ist, wie in diesem Moment, dann ist es hundertachtzig Längengrade von Paris entfernt Mittag.“
Für uns befindet sich also hier eine weitere Linie Null. Nach der Straße von Gibraltar, die uns zwischen den Säulen des Herkules aus einem umschlossenen Meer auf den unendlichen Ozean entließ, nach dem Cabo São Vicente, dem westlichsten Punkt des europäischen Festland, der Basis Heinrich des Seefahrer. Eine Meile weiter, und für uns spielt es keine Rolle, ob eine Meile nach Westen oder eine Meile nach Süden (eine Meile, die uns zu einer weiteren Nulllinie, diesmal einer natürlichen, dem Äquator bringt), eine Meile weiter also und das eigentliche Abenteuer beginnt. Hier ist die Alte Welt zu Ende, hier endet Europa. Östlich erstreckt sich die afrikanische Landmasse (Um nicht von Kontinent (continens) zu sprechen, denn um wieviel mal größer sind die Ozeane in ihrer Ausdehnung und somit die eigentlichen „Beinhaltenden“, die Kontinente jedoch, zumal der winzige Europäische werden vom Meer umspült und umfasst. Auf einer Kartenprojektion nach Athelstan Spilhaus auf den jeweils ersten Seiten des ausgezeichneten Magazins mare, rücken die Ozeane in die Kartenmitte und zeigen wie sie zusammenhängen. Die marginalen Festlandmassen werden zu Randnotizen.) und westlich sind es ein paar Tausend Meilen zu den zwei Amerikas.
Ach nein. Fast haben wir etwas vergessen. Westlich von El Hierro soll es noch die verschwundene, geheimnisvolle und verzauberte, die mysteriöse und unentdeckte Insel San Borodón geben, die achte Insel der Kanaren, octava isla canaria. Auf zahlreichen Seekarten des Mittelalters verzeichnet. Nur ein oder vielleicht zwei Mal im Jahrhundert soll sie aus den Fluten des Ozeans aufsteigen und sichtbar werden. (Wir erinnern uns an die Brendan Sage und das Saint Bridgets Cross.) Und auf El Hierro gibt es einen Berg von dem aus man bei optimalen Wetterbedingungen und wenn man sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort befindet und in die richtige Richtung schaut, San Borodón erblicken kann.