Isinda – ein vergessener Hügel bei Kaş

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Es ist Winter in der Südosttürkei. Ein Sturmtief fegt das nächste heran. Manche Vorhersage schürt die Angst, die dann in dem tiefeingeschnittenen Fjord, in dem die Kaş Marina liegt, verpufft. Anderes Mal hingegen fegen unangekündigte Böen von bis zu 45 Knoten aus Nord, West oder Süd durch das Ankerfeld und legen unsere Chulugi mal auf die rechte, mal auf die linke Seite. Mir drängt sich erneut die häufig gestellte (und unbeantwortete) Frage, warum so etwas immer nachts passieren muss. Unserer „Monat-Umsonst“ in der Kaş Marina, den der Vertrag mit der Setur-Marina Finike uns garantiert, ist bereits abgelaufen und so ankern wir dahinter. Außerdem ankern wir wirklich sehr gern. Der alte Bollerofen, der bei uns im Salon steht, macht eine wunderbare Wärme und das Schiff schaukelt normalerweise alle Windeinfälle bestens aus, die ansonsten so manchen Aufenthalt in einer bewegten Marina nervenaufreibend gestalten. Doch 40 bis 45 Knoten in plötzlichen und wechselhaften Böen bleiben äußerst unangenehm, auch wenn sich bei nördlichen Winden am Ende des Fjords keine nennenswerten Wellen aufbauen. Weil die Chulugi sich so heftig in den Böen auf die Seite legt, müssen wir mitten in der Nacht die vier-Liter-schweren Gläser mit Kombucha und die vielen anderen Gläschen, die entlang der Pantry-Ablage eine Straße bilden, abräumen. Sie richtet sich wieder auf – es ist plötzlich fast windstill –, um dann von neuem auf die andere Seite geworfen zu werden. Ich schaue ungläubig auf die Windy-Wetterapp und deren Vorhersage. Habe ich mich getäuscht? Doch nein, das europäische Wettermodell ECMWF zeigt immer noch moderate 2 bis 20 Knoten in Böen.
Nach so einer Tortur fürs Boot und Crew war es uns ein Bedürfnis, den ersten schönen und windlosen Tag mit einem Ausflug in die Umgebung von Kaş zu begehen. Es ist ganz offensichtlich, dass wir nicht mehr ohne lykische Siedlungen und antike Stätten auskommen können, so gehen wir wieder einmal daran, die Leerstellen auf unserer persönlichen Lykienlandkarte zu schließen.

Auf uralten Wegen

Es geht nach Isinda. Zu einem geradezu vergessenen Hügel mit Sicht auf die Küste. Wir fahren auf dem kürzesten Weg, der Phellos, die ehemalige „Hauptstadt“ der Region, mit Isinda und Antiphellos (Kaş) verbindet. Wer unserer Spur folgen will, der richtet sich zunächst an dem Dorf Belenli aus. Von Phellos habe ich schon berichtet, von Antiphellos immer noch nicht, aber nun will ich nach Isinda, zu einem Ort, der seine offenbar interessante Geschichte ganz für sich behält.

Die Landschaft in dem Tal ist schön. Keine Plastikplanen der Gewächshäuser, diese moderne Pest. Kein Plastikmüll, keine zerhackten Bewässerungsrohre, keine Nylonnetze, die sich tief in das Erdreich eingraben – alles Hinterlassenschaften der Gewächshausmanie, des Bedürfnisses nach mehr, und zwar rund um das Jahr. Das Auge schweift über eine uralte Kulturlandschaft, die seit Jahrhunderten in einem Gleichgewicht mit dem Menschen und lange genug sich selbst überlassen war. Ziegenhirten durchstreiften die hügelig-bergige Macchialandschaft. Früher, als Phellos noch eine mächtige Stadt war und Antiphellos blos ihr Hafen, war hier viel Wald, wovon der Handel mit begehrten Hölzern zeugt, mit dem dem Phellos reich geworden ist. Gemüse und Obst gediehen in den fruchtbaren Niederungen. So wie heute. Noch.

Kurz vor dem Dorf Belenli, vom Norden kommend, passieren wir einen sterbenden Berg. Schwere Narben schauen uns an. Was wird aus den zerstückelten Bergteilen entstehen? Eine breite Straße durch ein bisher unbewohntes Gebiet? Noch ein Haus und noch ein Haus und noch … und noch? Wenn wenigstens etwas Schönes daraus entstünde.

Später werde ich nachlesen, dass es in dem von uns schnell passierten Dorf Belenli irgendwo einen Hof und einen Garten gibt und darin ein Relikt mit schöner lykisch-griechischer Inschrift, die TL 62 heißt. Schade, schon wieder etwas Schönes verpasst.

Wir passieren ein mit Grundwasser oder Sickerwasser überfluteten muslimischen Friedhof. Ein Spa-Friedhof schießt mir durch den Kopf. Hier muss sich etwas Gravierendes verändert haben. Dass dieser Friedhof im Ursprung alt ist, davon zeugen die verwitterten Grabplatten, die direkt aus der Erde zu wachsen scheinen. Kaum vorstellbar, dass die Alten ihren Friedhof aus Platzmangel oder schlechter Planung an einer Stelle anlegten, die vor Überflutung nicht sicher war. Was für ein Desaster, wenn die tote Verwandtschaft im Grab ertrinkt. Die Katholiken wie die Protestanten haben den jüdischen Mitbürgern nur solche letzten Ruheplätze zugewiesen, die vor allerlei Unbill betroffen waren. Am Rhein liegen sie in den Überflutungsauen.

Mich erinnern die modernen türkischen Friedhöfe an katholische. Die hoch aufragenden Kastengräber, in denen man allerlei Grünzeug pflanzen kann, sind bei den Katholiken in Europa bisschen aus der Mode gekommen, aber vielerorts noch in Verwendung. In der Türkei macht man offenbar nicht viel Aufhebens um die Toten, denn die Gräber machen auf mich einen nüchternen und geradezu verwaisten Eindruck. Und das im Land der Lykier, die ihren Toten die schönsten Häuser der Welt bauten!

Wir biegen gleich am Anfang der Dorfhauptstraße rechts ab und im Nu sind wir schon außerhalb des Dorfes. Ein Hügel, ein großer Parkplatz, ein neues oder neu renoviertes längliches Gebäude – vielleicht die ehemalige Schule und jetzt eine Hochzeitsveranstalungs- oder Begegnungsstätte – und eine Informationstafel. Hier sind wir richtig. Hier geht es nach Isinda.

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Isinda 

Wenig weiß man von Isinda. Das Bisschen weist darauf hin, dass der Ort zwar klein, aber nicht unbedeutend und wahrscheinlich auch nicht arm gewesen ist. Isinda  wurde im Lykischen Bund von der benachbarten Stadt Aperlai vertreten, was wiederum auf enge wirtschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehungen hindeutet. Isinda bildete zusammen mit Apollonia und Aperlai einen Troika-Bund. Ich lese in einer kurzen Abhandlung, dass die Bewohner von Isinda „irgendwann“ in das benachbarte Phellos übergesiedelt sind. Meine Vermutung: Sie sind wie die Phellos-Bewohner auch nach Antiphellos ausgewandert.

Die große Stadt Aperlai am Abhang zu der gleichnamigen Bucht bei Kekova ist uns wohlbekannt. Hier haben wir die Stele für den viel zu früh verstorbenen Freund und Mentor Wolfgang B. gebaut, hier sind wir schon mehrere Male auf Ruinen gekraxelt und noch häufiger uns gefragt, warum die große Siedlung kein Archäologenteam reizt. Uns reizt dieser steile und über und über von Ruinen bewachsene Hügel jedenfalls sehr.

Auch Isinda ist eine Hügelsiedlung mit teilweise steilen Abhängen. Auf dem schönen Weg dorthin staune ich wieder über die große Vorliebe der Lykier, im unwegsamen Gelände und an den steilsten Hängen ihre Wohnstätten, ihre Tempel und vor allem ihre Nekropolen zu bauen. Häufig genug wünsche ich mir Archäologenaugen zu haben, um mir dieses von Mauerresten und Steinen übersätes Terrain wieder bewohnt und bebaut vorstellen zu können.

Isinda stellt sich uns als eine Akropolis vor, mit verschiedenen Grabtypen, einem Tor, einigen großen Zisternen und verschiedenen Gebäuderesten, die vielleicht Tempelanlagen waren, vielleicht aber auch etwas anderes. Eine Agora fehlt oder ist jedenfalls nicht mehr auszumachen und auch sonst ist recht wenig Platz auf dem Hügel und seinen Flanken. Archäologen und Historiker von der Universität in Wien meinen, die Lykier haben in massiven Holzbauten gewohnt und diese haben natürlich keine Spuren mehr hinterlassen. Mich überzeugt das nicht.

In Isinda ist die Akropolis im Norden mit einer gut sichtbaren Mauer befestigt, die man als Stadtmauer bezeichnen könnte. Der Süden bedurfte offenbar keiner künstlichen Absicherung. Einige Wissenschaftler, die sich dieser Siedlung annahmen, sprechen von einer „Burg“ an der Nordseite, die ich jedoch nirgends bestätigt sah. Wohl aber hat die Mauer einen (Ausguck-) Turm gehabt.

So klein der Raum auf der flachen Hügelspitze auch ist, so ungewöhnlich seine Bauten. Wir finden hier nicht nur ein Heroon – ein Grab einer besonderen Persönlichkeit, eines „Heros“, um die es eine Art Kult veranstaltet wurde – und ein Felsgrab. Sondern auch ganz außergewöhnliche, vielleicht die außergewöhnlichsten Grabbauten überhaupt: die sogenannten Pfeilergräber. Wer diese noch nie gesehen hat, wird sich die Konstruktion nach Beschreibung nur schwer vorstellen können. Zur besseren Illustration füge ich ein Foto aus der berühmten lykischen Stadt Xantos an, denn dort stehen sie noch fast vollständig.

Blick auf die Halbinsel von Kaş (Antiphellos), die sich wie eine Perlenkette von kleinen Inseln im sanften Bogen zieht. Der Fjord, der sich (rechts im Foto) aus dieser Situation ergibt, bildet die Einfahrt in die Setur-Marina von Kaş.
Auf Ziegenpfaden nach oben. Eine blaue Markierung bricht plötzlich ab. Nicht suchen – einfach treiben lassen.
Massive Wände im Dickicht. So sehr ich jede begrünte Fläche befürworte, auf antiken Stätten müsste radikal gerodet werden.
Schaut man genauer hin, so sieht man, dass es sich hierbei um ein Tor handelt. Das Stadttor? Eingangstor eines Gebäudes? Oder der Unterbau eines Pfeilergrabes?
Wird als Zisterne bezeichnet. Und was ist der rund bearbeitete Stumpf in der Mitte – vielleicht ein Säulenschaft oder das Kapitel einer Säule, die hier das Dach gestützt hat?

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Pfeilergräber von Isinda 

Darin sind sich die Altertumsforscher einig: Die lykischen Pfeilergräber gehören zu den ungewöhnlichsten Bauten, die man in der Sepulkralarchitektur kennt. Auf teilweise vier Meter hohen, viereckigen Pfeilern stehen steinerne Kammern, die mit einem leicht überstehenden Deckel abgedeckt sind. Die andere Variante sind die auf Abschlussplatten stehende Sarkophage mit den für Lykien so typischen spitz zulaufenden Tonnengewölbedächern. Sowohl die Pfeiler als auch die Kammern konnten – mal mehr, mal weniger – mit prächtigen Reliefs ausgeschmückt und beschriftet sein. Die überaus exponierte Stellung dieser Grabkammern lässt an Begräbnisstätte von Dynasten (lykische Stadtherrscher, Territorialkönige), Königen oder außergewöhnlichen Heroen denken. Manche Kammern sind jedoch so klein, dass man eher an Unterbringung von Urnen denkt, was wiederum Feuerbestattung voraussetzt, oder an leere „Gräber“.

Die kleine Isinda überrascht mit mindestens sieben dieser ansonsten raren Pfeilergräbern. Sie alle präsentieren sich uns im Januar 2022 in gänzlich zerstörtem Zustand. Mit welchem ursprünglichen Glanz wir es hier zu tun hätten, bezeugen zwei die vom Pfeiler Nr. 5 (P5) abgenommenen Reliefs, die anschließend nach Istanbul abtransportiert wurden und heute im Archäologie-Museum zu sehen sind. Für die Wiederentdeckung und den Abtransport, was wiederum die gänzliche Zerstörung des Pfeilers nach sich gezogen haben wird, sind Rudolf Heberdey und Ernst Kalinka verantwortlich. 1895 sind sie auf die lykische Ortschaft gestoßen und 1896 waren die beiden Sarkophagseiten mit ihren Reliefs abgenommen worden. Neben den Reliefs wurden auch lykisch-griechische Inschriften abgenommen. Herberdey hat auf dem antiken Gelände auch eine kleine Stele entdeckt, diese aber dort liegen lassen. Ihre Inschriften (bezeichnet als TL 65) sind danach lange Zeit von niemanden mehr gesichtet worden, bis 2013 Diether Schürr sie wiederfand. So ist es in Lykien – die Dinge erscheinen und verschwinden und erscheinen wieder.

Abbildungswürdiege Szenen aus dem Leben eines lykischen Adeligen und Heros sind Jagdszenen, Kriegs- und Eroberungsszenen. Ihnen können sich Festtags- und Tafelszenen mit Musik, Tanz, Speis und Trank dazugesellen. Oder auch Opferungsdarstellungen, diese auch im Zusammenhang mit dem Begräbnis. Nichts davon ist Lykien-typisch. Darunter findet sich jedoch eine Bildformel, die nur in Lykien vorkommt und tatsächlich auch auf dem Pfeilergrab P5 zu finden war bzw. nun im Istanbuler Museum zu finden ist. Es handelt sich dabei um eine symbolische Darstellung der Siege: Der Kampfheld wird mit mehreren Schildern dargestellt, welche wiederum die siegreichen Schlachten bzw. Kämpfe symbolisieren.

Man ist sich nicht immer darüber einig, ob die Pfeilergräber auch wirklich Gräber waren, oder nicht vielleicht – zumindest einige – leer geblieben sind, wie Jürgen Borchhardt postuliert. In diesem Fall hätten wir strenggenommen mit gar keinen Gräbern und vielmehr mit sogenannten Kenotaphen zu tun, die eine Memorialfunktion ausübten. Das heißt, sie würden an einen Verstorbenen und seine zumeist heldenhaften Taten erinnern, der Leichnam wäre jedoch an einem anderen Ort bestattet. Theorie gegen eine andere Theorie. Das macht das Wühlen in den Steinen und in der Vergangenheit so spannend. Ich bin eine Anhängerin der ersten Theorie, demnach es sich bei den Grabpfeilern um echte Pfeilergräber handelt.

Rund um die Akropolis verstreuten Sarkophage, Grabhäuser und Felsengräber hinterlassen den Eindruck, Isinda war eher den Toten als den Lebenden geweiht. Für Lykier mit ihrer extravaganten Vorliebe für Gräber und Totenkult sicherlich kein Widerspruch.

Angesichts der bis zu vier Metern hohen Grabpfeilern mit ihren aufgesetzten Kammern und Schmuckelementen meinen tatsächlich einige Wissenschaftler, dass diese Grabformen nicht repräsentativ für echte Dynasten- oder Heroengräber seien. Das ist sicherlich eine Frage des Zeitgeistes. Stellen wir uns die Anstrengung vor, einen Steinpfeiler von mehreren Metern herzustellen, ihn samt einer tonnenschweren Sarkophagkammer darauf aufzustellen und die Signalwirkung dieser auf Hügeln weit sichtbar aufgestellten Gebilden vor. Wie Leuchttürme. Wir sprechen hier von Grabtypen, die neben den sogenannten Tumuli, die eher in die Tiefe gingen, zu den ältesten in Lykien zählen und zwischen 7. und 5. Jh. v. Chr. im Gebrauch waren. Von wenig Repräsentanz kann hier eigentlich kaum die Rede sein.

Inwiefern die schlichteren Pfeilergräber wie möglicherweise jene in Isinda eher entfernten Familien von Dynasten oder noblen Adeligen als Grab dienten, lässt sich nicht mehr klären. Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach der Bedeutung dieses Ortes, der einigen Wissenschaftlern zu unbedeutend erscheint, um so vielen Persönlichkeiten als letzte Ruhestätte gedient zu haben. Doch auch hier müssen wir ehrlicherweise zugeben, dass es keine harten Fakten und entsprechende Anhaltspunkte gibt, dass wir keine Ahnung haben und schriftliche Quellen bisher aus Grabinschriften und einer Stele bestehen. Was ist aussagekräftig, was macht einen falschen Eindruck? Welche falschen Schlüsse lassen uns die Überreste ziehen … Festzuhalten ist, dass Pfeilergräber einmalige, typisch lykische Bauten für die Toten sind. Festzuhalten ist ferner, dass sie mitten im Leben standen. Auf der Agora, an den Stadttoren – sie stehen nie weit von den wichtigsten Handlungsorten der Bewohner entfernt. Und vor allem, sie wachsen weitaus sichtbar, monumental und grandios aus den Landschaften heraus.

Was mich an diesem vergessenen Hügel von Isinda begeistert und zugleich verwundert, ist die Dichte an verschiedenen Grabtypen, die hier versammelt sind. Beinahe alles, was die Lykier als ihre letzte Ruhestätte erdacht haben, war bzw. ist in Resten hier zu finden. Nur die Terrassengräber und die frühsten bekannten Grabkammern Lykiens, die Tumuli, die bereits für das 8. oder gar 9. Jh. v. Chr. gesichert sind, fehlen in der Serie. Aber wer weiß, vielleicht gab es sie hier auch.

Ich gebe zu, es ist schwierig, sich in diesen Pfeilern Gräber vorzustellen. Das liegt insbesondere daran, dass hier sowohl die aufgesetzte Grabkammer, der Sarkophag und/oder die Abschlussplatte auf dem Pfeiler fehlt bzw. fehlen, als auch die gesamte Situation unvollständig ist. Sehen wir genauer hin:  Der Pfeiler wurde der Länge nach gespalten. Zu sehen ist so zu sagen der Querschnitt des ursprünglichen Trägers, des Orthostats. Links im Bild sehen wir am oberen Ende des Pfeilers eine Vertiefung. Hier befand sich die in den Stein eingearbeitete Grabkammer, die sich möglicherweise in einem aufgesetzten Sarkophag fortsetzte. Durch die Spaltung des Pfeilers ist davon nur diese kleine Vertiefung übriggeblieben. Das rechte Bild zeigt einen anderen Grabpfeiler von Isinda, der unsauber aufspalten wurde. Hier fehlt der oberste Teil der Anlage völlig. Dafür sehen wir gut den Unterbau, der aus einer Art Plinte (Unterbau einer Säule) besteht. Deutlich zu sehen ist die verschobene Achse des Pfeilers. Die zahlreichen Reste dieser Anlage liegen zu Füßen des Stumpfes. Der Blick schweift von hier aus über das Hinterland. Über die Berge nach Norden und über das Meer nach Westen. Majestätisch haben hier die Pfeilergräber aus den örtlichen Bebauungen und über den Wipfeln der ehemals hier stehenden Bäume hinweggeschaut.
Dieses Foto zeigt die Agora von Xantos, einer der ältesten und mächtigsten Städte der Lykier. Ich füge es hier bei, nicht um die sommerliche Situation in die winterliche Isinda zu bringen, als vielmehr um die Imagination anzuregen. So oder so ähnlich wie das Kammerpfeilergrab rechts muss man sich auch Isindas Pfeilergräber vorstellen. Inwiefern auf den Pfeilern die für Lykien so typischen Sarkophage mit den bogenförmigen Dächern standen, ist unklar. Die verstreuten Reste geben keine Auskunft darüber und lassen daher eher abschließende Platten, also Flachdächer vermuten.

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Ein Heroon aus dem blanken Fels

Isinda hat sogar ein kleines Heroon. Ein besonders aufwendig gestaltetes, frei stehendes Kammergrab (li. im Bild). Hier ist es aus dem blanken Felsen herausgearbeitet worden, der an einer exponierten Stelle im Süden Akropolis von Isinda steht. Von dem restlichen Naturfels ist das Grabhaus durch einen im Stein geschlagenen ‚Tunnel‘ getrennt (Mitte im Bild). Über ein anderes Heroon habe ich bereits in dem Beitrag zu Phellos, das nur knappe drei Kilometer von Isinda entfernt liegt, berichtet und seine Funktion etwas ausführlicher erläutert (link). Heroon ist nicht gleich Heroon und häufig genug werden frei stehende Grabhäuser so bezeichnet, wenn sie eine besonders aufwendige Gestaltung erfahren haben, nicht jedoch, weil mit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes ein Heros oder andere verehrungswürdige Personen geehrt wurde. Das Fehlen einer kultischen Anlage um das Grab oder einer entsprechenden Inschrift sollte jedenfalls zu denken geben. Wie in diesem Fall hier. Auf der anderen Seite ließ sich wohl so mancher Adeliger nach eigenem Ableben wie ein Heros behandeln…

Emotional betrachtet gebe ich dem Grabbau meine volle Aufmerksamkeit und gestehe ihm seine Bedeutung als Heroon auch ohne Heros zu. Die leicht versteckte, gleichwohl exponierte Lage, die Nähe zu dem Naturfelsen, mit dem es wie durch eine Nabelschnur sowohl verbunden als auch getrennt ist, sowie die um ihn versammelten Olivenbäume und Sträucher erzeugen eine ganz besondere Stimmung. Das Grab ist wie eine monumentale Skulptur aus einem Block geschlagen. Mir kommen entfernte Assoziationen an die unvollendeten Sklaven von Michelangelo in den Sinn. Auch diese architektonische Skulptur trägt Spuren des Natürlichen im Künstlichen, die Form des Steins, seine Maserungen, seine Gravitation … und ist gleichzeitig schon Kunst, durch die der Stein an Leichtigkeit gewinnt.

Lykisch-Griechische Inschrift oberhalb des vorkragend ausgestalteten Torsturzes. Seltsamer erscheint mir aber der Quader auf dem Dach des Heroons. War hier vielleicht ein kleines Pfeilergrab aufgestellt? Liegt ein gespaltener Schaft in dem Durchgang zwischen dem Fels und dem Grabhaus?
Ein Blick in die Kammer gibt eine Vertiefung in der Mitte, nun vom Regenwasser geflutet, denn das Dach ist aufgebrochen, mit umlaufenden Steinbänken, den sogenannten Klinen preis. Waren die Wände mit Ornamenten oder Szenen ausgemalt, oder zumindest in Farbe gefasst? Die Ewigkeit ist lang, man sollte was zum Schauen haben. Man stellt sich die steinernen Bänke als letzte Ruhestätte für zwei, vielleicht auch drei Personen vor, falls die Bank an der Stirnseite nicht für die Grabbeigaben reserviert war. Blicken wir nach oben, so entdecken wir das ausgeschlagene Loch, das eigentümlicherweise mit der Bodenvertiefung korrespondiert. Zufall? Oder war hier eine Platte eingelassen?

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Die vielen kleinen Häuser für die Ewigkeit

Lykier stelle ich mir gerne als exzessive Menschen vor. Denn wer würde solche Grabhäuser für die Ewigkeit bauen, wenn nicht Menschen, die das Leben genießen – und vielleicht auch danach damit weitermachen wollen? Spitzbogige Grabdeckel, die die Form der Häuser zu Lebzeiten imitieren sollen. Das stellen sich die Wissenschaftler so vor. Stilisierte Bauformen übertragen in die Sepulkralarchitektur kennt man aus anderen Kulturkreisen, bspw. von den Etruskern. Aber auch die Katholiken, ob in Italien oder anderswo, haben Häuser für ihre Toten gebaut, die ihren realen ein wenig entsprachen. Das bogenartige Giebeldach mag ich mir als gestautes Tonnengewölbedach in den Häusern der Lebenden nicht so recht vorstellen. Ich denke eher an eine spezifische Architekturform für die Totenstädte, die Nekropolen. Das reale Haus hinter dem Formular dieser Sarkophage zu entdecken, sehe ich im gleichen Verhältnis erfolgversprechend wie bei der katholischen Gruft und dem deutschen, italienischen, polnischen Wohnhaus.

Die Bosse an den Seiten und manches Mal auch an der Stirnseite dienten dem Anheben und Platzieren der schweren Steindeckel auf die längliche Kammer. Das technisch-praktische wird zum Stilelement und Pointierung der gebogen Kielform der Grabdeckel. Nichts an den klar ausformulierten Sarkophage ist zufällig, nichts so dahin gehauen – alles ist Form, alles ist architektonische Schönheit, die auf eine atemberaubende Weise mit der heutigen Umgebung im Dialog steht. Interessanterweise werden diese schlanken Spitzdachsarkophage als die letzten in der Entwicklung der Sepulkralarchitektur betrachtet. Sie begleiten jedoch lange Zeit parallel die anderen Grabtypen wie die Felsengräber und Hausgräber.

Ich kann nicht anders, ich sehe die lykischen Sarkophage in Schwarzweiß. Es stimmt mich seltsam traurig, wenn ich die Deckel von Goldsuchern und Grabschändern abgehoben und am Boden zerschmettert sehe. Wie aufgerissene Münder starren die schwarzen, mit verzweifelter Gewalt in die Seitenwände herausgehauenen Löcher zurück. Ich betrachte die erhaben aus der Landschaft herausschauenden Sarkophage und stelle mir vor, welch schöne Vorstellung vom Tod und dem Danach hier Pate gestanden haben muss.

So manches Mal erscheinen sie mir wie steinzeitliche, versteinerte Lebewesen, wie Fabelwesen oder prähistorische Tiere mit einem Kamm auf dem Rücken. Ein anderes Mal muss ich an verletzte Krieger auf dem Schlachtfeld oder versehrte Heimkehrer denken.
Formen, die das Tonnenschwere des Steins verneinen. Schwebende Kolosse mit ihren gestaffelten Höhlen: unten für die Bediensteten oder entfernte Verwandte, darüber im Sockel der Hauptkammer vielleicht Ruhestätte für die Ehefrau, für die Kinder? Und schließlich ganz prominent der ausschauhaltende Sarkophag und der Hauptraum unter dem großzügigen Dach für den Hausherren oder die Hausdame.

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Das Haus bewohnt man nicht alleine

Das Haus der lykischen Toten fällt so vielfältig aus, dass man sich der Frage nicht entziehen kann, welche Rolle spielte das Sterben im Leben der Lykier. Dass das Vermögen des Grabbesitzers bzw. des Stifters, falls dieser nicht eine Personalunion darstellte, eine entscheidende Rolle spielte, liegt auf der Hand. Die meiste namenlosen Lykier haben wahrscheinlich eine einfache Erdbestattung erfahren. Aus den nun leeren Sarkophagen blicken uns demnach die Wohlhabenden oder die Wohlhabenderen entgegen. Und von ihnen muss es eine Menge gegeben haben.

Die am häufigsten auf uns überlieferte Form ist der Steinsarkophag, diese für die Lykier typische und einmalige, gotisch-geschwungenen Sarkophagdeckel mit den vier oder sechs seitlichen Bossen, dem stilisiert ausgeschmückten Tympanonfeld auf der Schmalseite der Deckel sowie einem an der Breitseite des Sarkophagkörpers ausgesparten Inschriftenfeld (das auch schon mal leer bleiben konnte). Blickt man in das Innere eines Sarkophages, so sieh man darin nur eine einfache, nicht besonders große Kammer, nicht viel mehr als eine Badewanne. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass hier nicht nur eine Person bestattet werden konnte oder wurde. Der mehrteilige Aufbau mit verschiedenen Kammern innerhalb einer einzigen Sarkophagarchitektur gibt klaren Aufschluss darüber. Ob mehrere in der engen Grabkammer übereinander lagen? Nebeneinander saßen? Der Ehemann und die Ehefrau?

Der nächste Sprung auf der Repräsentationsstufe muss nicht unbedingt das Felsengrab sein, auch wenn sie uns aufwendiger und damit kostbarer vorkommen. Isinda hat natürlich auch einen Vertreter aus dieser Kategorie der Felsengräber, genauer: der Felsfassadengräber. Ich weiß sogar, wo es sich befindet, aus zeitlichen Gründen, und weil zwei meiner Crewmitglieder drängelten, konnte ich das Grab nicht in Augenschein nehmen.

Mit Sicherheit gehört das frei stehende, singuläre Totenhaus aus Stein zu den aufwendigsten und teuersten Anschaffungen fürs Später. Insbesondere bei diesem Grabtyp gehen Wissenschaftler davon aus, hierbei handele es sich um einen Widerhall der Holzhäuser der Lykier. In Limyra haben Archäologen der Wiener Universität in einem aufwendigen Forschungsprojekt solche Häuser entworfen und nachgebaut. Sie sind noch heute vor Ort, auf dem Gelände der Ausgrabungen, zu besichtigen. Wie bereits geschrieben, leuchtet mir diese Ableitung nur bedingt ein. Zugegeben, ich muss mich noch einmal in die Begründung der Wiener für ihre ‚Rekonstruktionen‘ einlesen.

Ich halte es für fraglich, dass in diese repräsentative Totenkultarchitektur das Holzhaus der einfachen Lykier eingegangen ist. Vielmehr vermute ich eher die Stilisierung von Wohnbauten der Adeliegen und wohlhabenden Bevölkerung, die offenkundig in Stein baute, wie die zahlreichen Ruinen bezeugen. Der Naturstein als Grundbaustein verwundert angesichts der steinreichen lykische Küstenregion kaum. Dass Deckenkonstruktionen, Türen und Fenster aus Holz bestanden, widerspricht dem nicht. Auch Fachwerke (also Stein, Holzbalken und Stroh-Lehm- oder Mörtel-Konstruktionen) wären denkbar, so wie man sie beispielsweise von den Etruskern, aber auch später von den Römern her kennt.

Betrachten wir das Grabhaus von Isinda (Abb. unten): Tatsächlich betrifft das, was am Grabhaus als stilisierte Holzkonstruktionen zu identifizieren wären, eigentlich nur die runden Tragebalken über dem obersten Sturz. Gehen wir ferner davon aus, dass die kassettierten Türen auch aus Holz waren, so deutet darüber hinaus nichts darauf hin, dass dieses Totenhaus Holzhäuser der Lebenden imitiert.

Das freistehende Grabhaus in Isinda befindet sich am Nordhang in der Nähe der Nordnekropole, mit zahlreichen Sarkophagen (s. Abb. oben). Wäre da nicht seine Randlage auf halber Höhe des Hügels, so hätte man ihn sicherlich auch gerne als „Heroon“ bezeichnet. Ich habe mir sagen lassen, dass der Begriff inflationärer Verwendung unterliegt.

Was an diesem Baukörper auffällt, ist seine Zweiteilung, die nicht nur in einen oberen architektonischen Teil mit Spitzdach, Gebälk und kassettierten Fensterleibungen oder Türen, sowie einen unteren Teil mit der zweiflügeligen Eingangstür (jetzt links und Mitte ausgebrochen). Der Bau besteht vielmehr tatsächlich aus zwei Teilen, die scheinbar aufeinandergestapelt wurden. Die Bruchlinie ist deutlich, wenn auch gut angepasst, oberhalb des Gebälks oberhalb der Tür zu sehen. Handelt es sich hier um eine „Aufstockung“ zu repräsentativen Zwecken oder um eine Erweiterung zwecks zusätzlicher Leichenablage?

Ich las, dass es sich bei diesem Grabhaus um eine späte römische Imitation des lykischen Grabtypus handeln soll. Könnte damit eben jene Erweiterung gemeint sein?

Der neugierige Blick ins Innere zeigt die typische dreifache Kline als steinerne Ablage für die Verstorbenen. Darüber gähnt das aufgebrochene Dach und gibt den Blick frei auf die gewissermaßen erweiterte Etage, die durchaus als weiterer Raum für Bestattungen zur Verfügung gestanden haben könnte. Auch eine Aussparung für einen Balken ist noch zu sehen. Eine solche zweiteilige Anlage habe ich bisher jedenfalls noch nirgends gesehen. Aber auf uns warten noch ganz viele lykische Stätten und wir freuen uns ungebrochen auf die privaten Entdeckungen.