Es gibt Hauptstädte, die die größten, die schmutzigsten, die lautesten, die häßlichsten oder die schönsten der Welt sind – Valverde, die Hauptstadt von El Hierro, ist die provinziellste Hauptstadt von allen. Sie ist aus dem Umfang eines Dorfes herausgewachsen, gleichwohl ist sie im Kern ein Dorf geblieben. Ein Dorf mit einer Disco, mit einem (oder zwei oder drei) Cafés, mit einem etwas ungewöhnlichen terrassierten Dorfplatz vor der großen Kirche, der so ausschaut, als ob man mit so viel Platz nichts anzufangen gewusst hätte. Alte Fotos zeigen den Vorplatz noch ‘ganz normal’ ohne das viele Treppauf-Treppab. Einen Tierarzt und ein Krankenhaus gibt es auch, und ein Schreibwarengeschäft, das Bücher auf einer kleinen Galerie verkauft und schon in den 1980er Jahren hier war. Dort kann man den mittlerweile veralteten Rother-Wanderführer von El Hierro erwerben (für viel Geld). Natürlich hat Valverde auch noch etwas anderes und viel mehr zu bieten – aber das ist so zu sagen nur Tarnung, damit man das tiefverwurzelte Dörfliche nicht merkt.
Damit hat die Hauptstadt etwas gemeinsam mit dem heutigen San Sebastian de La Gomera, wobei ich nicht entscheiden könnte, welche provinzieller ist. Wahrscheinlich doch Valverde. Seltsam ist es schon, eine Hauptstadt, die das ‘Hauptstädtische’ nie erreicht hat. Und doch ist es für diese Insel bezeichnend. Am ende von Europa (politisch betrachtet), spät kolonisiert und dann gleich an ein Grafengeschlecht verkauft, das hier genauso wie auf La Gomera machen konnte, was es wollte. Und es wollte vor allem nur schnelles Geld, das heißt aus dem Wenigen hier Vorhandenen möglichst viel auspressen. Eine Hauptstadt? Das hieße wohlhabende Bürger und Händler – wozu?
Schöne Gebäude, die das ungebremste Wüten der Neubauten überlebt haben, hat sie jedenfalls ein paar noch behalten dürfen. Allerdings bröckelt auch an ihnen alles ab. Doch sie bezeugen das ehemalige Vorhandensein von ein paar wohlhabenden Bürger und reichen Adeligen (also keinen “Bürgern”). Einen reichen Apotheker kann ich mir in diesem Milieu des 19. Jhs gut vorstellen. Ein interessantes ethnographisches Museum soll es hier geben, wir haben es nicht gesehen, und wer weiß, ob es überhaupt noch existiert.
2006: Valverde wird als ein hübsches gepflegtes Inselstädtchen beschrieben mit ca. 1800 Einwohnern. Und einer Discothek. Und unserer Herr Michael Fleck zählt 1988 1.755 Köpfe. Die Disco gab es schon damals plus sieben Bars, die es – so glaube ich – nicht mehr so zahlreich gibt. Aber wer weiß. Es heißt:
“Dominierend im Ortsbild […] ist die gegen Piratenangriffe im 18. Jh. erbaute Festungskirche die “MATRIZ” oder Santa Maria, Iglesia de la Concepción. Desweiteren der stattliche Bau des Rathauses an der Plaza gegenüber der Kirche, ein Gebäude, das 1910 begonnen und erst, wegen fehlender Mittel, in den 40er Jahren zu Ende geführt werden konnte. […] Der eigentliche Name des Ortes ist Villa de Santa Maria de Valverde.”
Der kleine Ort zerfällt in drei Ortsteile, wobei der Hauptort und das eigentliche Zentrum einfach La Calle also “Die Straße” genannt wird – mit Betonung auf “La”. Am auffälligsten ist die große Kirche und ihr seltsamer, auf verschiedenen Ebenen angelegter Platz, Plaza del Teatro. Und wie immer auf den Kanaren (und Spanien), ist er so vollkommen unwirklich leer, ohne ein Café, ohne Bänke, ohne Idee von sozialer Architektur. In der gleißenden heißen Sonne und den menschenleeren Straßen, den zugebretterten Häusern und den “se vende”-Schildern musste ich an die Bilder von de Chirico denken.
Die Kirche baute man in den Ursprüngen der Hauptstadt als Trutzkirche, die Schutz bieten sollte vor allen möglichen Angriffen, vor allem aber von den Angriffen der sogenannten Piraten wie Herr Fleck richtig bemerkte, die aber alles mögliche waren bspw. auch Engländer.
Sie ist das Zentrum oder wenn nicht das Zentrum so doch das Ende der inselberühmten Bajada, der Wallfahrt, die alle vier Jahre stattfindet und ihren Ausgang in der Ermita Virgen de Los Reyes – der Kapelle der Jungfrau der Heiligen Drei Könige – im Südwesten der Insel nimmt (Marcel hat darüber berichtet). Genauer in den benachbarten Höhlen der Ureinwohner der Insel, den Bimbaches, wo die verehrte Madonnenfigur ursprünglich aufgestellt wurde, bevor man der Meinung war, das sei ein unwürdiger Ort für eine solche königliche Berühmtheit, die das ausgedörrte Land mit Regenfällen beschenken kann.
Früher war die ganze Insel auf der Bajada unterwegs, die auf einem beschwerlichen, ca. 26 km langen Wanderweg mit einigen Zwischenstationen stattfand. Man begleitete die Madonnenfigur auf diesem Weg tanzend, singend, auf der Schulter tragend. Das große Fest fand dann vor der “Matriz” statt. Ob jetzt auch so viele zu Fuß der Madonna folgen oder lieber das Auto nehmen? Ein Fest der ganzen Insel und darüber hinaus ist jedoch geblieben.
Man könnte sicherlich noch mehr zu der neuen Hauptstadt sagen, wir aber wissen nicht mehr aus eigener Erfahrung zu berichten, außer dass es dort auch den zentralen Busbahnhof gibt und dass dort der unvermeidliche “Chino-Laden” – genannt nach seinen Besitzern, die immer (!) Chinesen sind und ausschließlich chinesische (Billig-) Haushaltswaren verkaufen – zu finden ist.
Ein Satz zum Essengehen in der neuen Hauptstadt: Wir haben fast überall bisher besser gegessen. Immerhin war das Fleisch frisch und gut gegrillt, auch die Farben durchaus interessant.
Ich schreibe “neue” Hauptstadt, weil es selbstverständlich auch eine alte Hauptstadt der Bimbaches gibt bzw. gab. Die kläglichen Reste dieser im späten 19. Jh. aufgegebenen Ortschaft sind noch zu bestaunen, denn sie war offenbar gar nicht mal so klein. Heute gibt es außer Mauern und Wegen und Feldern nur wenig zu entdecken. Ich wette aber, dass es einiges für die Archäologen zu finden gäbe, wäre man denn an solchen Entdeckungen überhaupt interessiert. Doch das ist ein anderes Kapitel in der vergessenen Geschichte der Eroberungen des Archipels.
Wir haben dieses andere alte Hauptstadtdorf gesucht und – das ist nur Herrn Fleck zu verdanken – auch gefunden.
[Ein Casino ist eine Art Kulturhaus – innen ein Restaurant mit dem Charme von 1960er Jahren”“. Aber: “Perros – no!”]
[Farblich aufeinander abgestimmte Speise in einem Restaurant in der Hauptstadt. Ich spähte auf die Teller der einzigen anderen Gäste (Spanier? Hiesige?), weil ich befürchtete, sie hätten eine andere Speisekarte bekommen. Bei ihnen sah “das” auch so aus.]
El Albarrada
Inselchronisten, die Michael Fleck erwähnt ohne sie zu spezifizieren, bezeichnen Albarrada als die älteste geschlossene Siedlung auf El Hierro. Die wertvollen Dokumente über die Insel zur Zeiten ihrer Eroberung sind in den Jahren 1891 und 1899 in Feuersbrünsten vernichtet worden. Dennoch ist man sich sicher, dass Albarrada die erste, im wahrsten Sinne des Wortes verstandene Hauptstadt der Insel war. Das Wort kommt aus dem altkanarischen und gehört damit zu den wenigen Worten – meist handelt es sich um Orts- und Flurbezeichnungen – der Urbevölkerung, die überliefert wurden, da ihre Überlieferung und Pflege ansonsten sehr wahrscheinlich nicht wünschenswert war (die Ausnahme bildet El Silbo, die Pfeifsprache unter UNESCO-Schutz, auf La Gomera und offenbar auch auf El Hierro). Es bedeutet auf spanisch “pared de piedra” und bezeichnet den damaligen Trockensteinbau (“Mauern aus Stein”). Tatsächlich ist auch das, was wir dort in Resten vorgefunden haben, in dieser Bauweise gemacht: Mauern soweit das Auge reicht. Als Fleck diesen interessanten, wie es bei ihm heißt “antiken”, Ort besuchte, standen dort nicht nur Mauern, sondern waren auch Straßen, befestigte Plätze und Häuserreste mit dem hier typischen Satteldach, der “de dos aguas” heißt, womit das Wasserabführungssystem zu zwei Seiten hin gemeint ist, vorhanden. Auch die Österreicherin Brigitte Hoyer, die wir in ihrem Atelier in El Pinar besuchten (eine neue Teetasse musste erworben werden) und die vor 30 Jahren auf die Insel zum Leben und Arbeiten kam, hatte in Albarrada noch Häuserruinen gesehen. Der letzte Bewohner verließ den Ort im ausgehenden 19. Jh. Danach hat keiner es für besonders wertvoll erachtet, die alte ‘Hauptstadt’ der Nachwelt – sei es auch nur als touristische Attraktion und sei es auch nur in Resten – zu erhalten. Ein Bewußtsein für Historie, für die Bewahrung der vorgefundenen (der Bimbaches) wie der eigenen (spanischen) Geschichte, ist auf allen kanarischen Inseln minimal, so auch auf El Hierro. Es ist einfacher ein “Ethno-Dorf” aufzubauen und als Freilichtmuseum zu erhalten, als die vielen Spuren der lebenden Geschichte, in der sich das Spanische der Siedler mit dem Hierrenischen der Bimbaches verband, über der Insel verstreut zu bewahren. Ist es Zufall, dass man nicht die alte ‘Hauptstadt’ konservierte?
Die gesamte Region, die Meseta de Nisdafe heißt und eine fruchtbare Hochebene auf ca. 1000 m Höhe ist, ist ein geschichtsträchtiger Boden, auf dem nicht nur Albarrada sondern auch der heilige Wasser-Baum der Bimbaches sowie eine weitere “antike” Ortschaft der Insel, Las Montañetas, sich befinden.
Man hat zwar keine schriftlich gesicherten Quellen, die Albarrada als Wohnort der Bimbaches ausweisen, auf der anderen Seite wurden aber auch keine archäologischen Grabungen in der Region vorgenommen. Zu wenig Interesse für diese Geschichte. Dabei liegt eine entsprechende Nutzung dieser besonderen Region durch die Ureinwohner geradezu auf der Hand. Dafür sprechen sowohl die auf dem Gelände vorhandenen Wohnhöhlen, die bis heute als Unterstände und Vielställe benutzt werden (s. Foto) – im Übrigen eine nicht unübliche ‘Umfunktionierung’ der ursprünglichen Wohnstätten der Urbevölkerung durch die Siedler – als auch die Nähe zu dem von den Bimbaches geheiligten Baum Garoé, der in großen Mengen Wasser spendete bzw. zu speichern ermöglichte. Beste Voraussetzung für eine nahe Siedlung zumal in einer quellenarmen, wasserarmen Gegend. Dazu an einer anderen Stelle im Blog mehr (Marcel hat die Informationen dazu gesammelt).
Dass die Bedeutung des Ortes auch einigen der Insel- und Kulturverantwortlichen bekannt sein muss, davon zeugt eine mittlerweile auch schon in die Jahre gekommene Infotafel auf dem Zuweg zu Albarrada, die über die historische Dimension des Ortes aufklärt. Leider hat es den Ort nicht gerettet. Die moderne Hauptstraße der Insel schneidet das ehemalige Gebiet der ‘Stadt’ von der östlichen Seite an, von der südlichen Seite kommen ihr Abräumbulldozer immer näher, die ganz nebenbei einen Vulkandom nach und nach abtragen und das Gelände als Berggrube nutzen. Sind es Nebelbänke oder Staubwolken, die das Gebiet einhüllen?
Ich kann mir gut vorstellen, dass die Siedler den ursprünglichen Wohnort der Bimbaches besetzten, indem sie die (wahrscheinlich eine geringe Anzahl) Bevölkerung entweder töteten, als Sklaven gefangen nahmen, oder ‘umsiedelten’. Alles ist schon auf den Kanaren häufig genug vorgekommen und mehr oder weniger gut dokumentiert, so dass es an dieser Stelle keine aus der Luft gegriffene Interpretation darstellt. Nach der Übernahme der Region erfolgte sicherlich ein rascher Umbau und Erweiterung des Ortes durch größere Nutzfelder und Viehhaltung (bis heute sind es Schafe, Kühe und einige Pferde, die wir in der ausgedörrten Landschaft gesehen haben).
Von urbanem Charakter des Ortes zeugen noch heute zwei Hauptwege: befestigte, um nicht zu sagen gepflasterte ‘Straßen’, die durch hohe Mauern von den angrenzenden Nutz- und Wohnparzellen getrennt sind. Auf diese Weise ergeben sich so etwas wie Straßenführungen, die sich an einer bestimmten Stelle in einer V-Gabelung treffen. Hier befand sich früher ein Sammelfeld, an dem in regelmäßigen Abständen die Albarraderos das Vieh aus der Umgebung zusammentrieben und sortierten. Fremde Tiere wurden den jeweiligen Besitzern zurückgegeben. Ein soziales, gemeinschaftliches System scheint mir.
Ein anderer Autor, der sich El Hierro als der ‘unbekannten Schönheit’ näherte, ist der Wahlpalmero Manfred Betzwieser. In seinem Buch “Geheimnisvolles El Hierro”, publiziert “on demand” 2010, zählt er noch an die 100 Häuser resp. Hausruinen und Nebengebäude. Die hohen Mauern trennten die Wege, Häuser und Nutzfelder voneinander ab und schützten sie vor den alles fressendem Nutzvieh, das sich ansonsten offenbar recht frei bewegen konnte. Die Infotafel beschreibt den typischen Aufbau der Parzellen, den man noch recht gut erkennen kann, folgendermaßen:
“Die Häuser sind zumeist Teil eines Familienhofes – Sitio genannt – zu dem Wohnhaus ein Obst- und Gemüsegarten, Schweine-, Hühner und Viehstall, Taubenschlag, Zisterne, Abort usw. gehörten. […] Die kleinen Wohnhäuser wurden aus Trockenstein erbaut und besaßen ein Geschoss. Dem Wohnraum war eine Küche angeschlossen und der Abort lag stets getrennt von diesem gebäudekörper. Die Dächer waren in der Regel Satteldächer und wurden in der Regel mit […] Weizenstroh – im Volksmund Como genannt – gedeckt. Auffallend ist, dass die Hauswände nicht von außen verkleidet wurden, von innen aber schützte man sie mit einer Tünche, Bosta genannt, die eine Mischung von Rinderexkrementen und Asche, hauptsächlich aus Feigenbaumholz, bestand. […]”.
Unverzichtbar war die Zisterne, die in die Erde eingelassen und oben zugemauert war. Das Regenwasser oder der kondensierte Nebel, das/der seitlich des Satteldachs abfloss und abgefangen wurde, aber auch das Wasser, das man auf den umliegenden Feldern ‘sammelte’ (poröser kalkhaltiger Boden) wurde in die Zisterne eingeleitet. Zunächst war das Wasser noch stark verunreinigt. Nach einigen Wochen legte sich der Schmutz am Boden ab und das Wasser war als Trinkwasser und für das Vieh zu gebrauchen.
Wir sammelten Obst und Zuckerschoten in den verlassen aber üppig wachsenden Gärten dieser historisch trächtigen Ruinen. Sie zeugen immer noch von der einstigen Fruchtbarkeit des Hochlandes, wo die Passatwolken für den sogenannten Horizontalregen sorgen. Ganz zu schweigen von dem heiligen Baum Garoé.
Diese Gegend kann man sich auch ohne viel Phantasie als überaus grüne fruchtbare Hochebene bis weit ins 20. Jh. hinein vorstellen. Wenn die Bagger aufhören, den schönen Vulkankegel nebenan abzureißen, dann gewinnt die Landschaft um die einstige ‘Hauptstadt’ der Insel ihre stille, traumähnliche Wirklichkeit zurück. Pferde und Kühe auf den Weiden, verwilderter Weizen im Nebel, Obstbäume, die sich vor Früchten biegen (und keiner sie erntet)… Häufig waren wir hier in Passat-Nebel eigehüllt, den ein Windstoß immer wieder vertrieb und die Sonne durchscheinen ließ. Eukalyptus-, Nadelbaum- und Pilzgerüche hingen dann in der Luft.
Es war für uns logisch, den Weg um wenige Kilometer zu verlängern und den heiligen Baum der Bimbaches aufzusuchen, wovon als nächstes berichtet werden soll.