Wer sich für die Zukunft absichern will, der geht zum Fischorakel von Sura. In der Antike weltberühmt, lag, nein: liegt das Orakel beim Apollon Surios Tempel in dem tief eingeschnittenen Fjord unweit des Strandes von Andriake in der Türkei. Der ehemals mit Meerwasser gefüllte Fjord machte es den Pilgern einfacher, an einem Steg vor dem Tempel des Apollons direkt anzulegen. Andere, vielleicht weniger wichtige Orakelsuchende, gingen den beschwerlicheren Weg über tausend Stufen, der von der hoch gelegenen lykischen Ortschaft Sura hinunterführte.
Wir gehen den Wasserweg. Denn obwohl das Meer sich im Fjord zurückgezogen hat, um einer verträumten Sumpflandschaft Platz zu machen, mäandert hier nun der Orakel-Fluss durch das vogelreiche Schilf. Eine Landschaft, die uns aus der so manches Mal erschreckenden Realität einer Weltuntergangsstimmung hinauskatapultiert und uns den Glauben schenkt, aus der Zeit gefallen zu sein. Während wir auf roten und blauen Kajaks paddeln und so wenig wie möglich Geräusche verursachen, fliegt dicht an der spiegelglatten Oberfläche uns voraus ein Eisvogel und noch einer und noch einer – oder ist es immer wieder der gleiche?
Apollon Tempel und das Fischorakel
Im Fjord geht die Sonne schneller unter. Starke Hell-Dunkel-Kontraste machen das Fotografieren schwer. Das letzte Stück zum Apollon Tempel müssen wir zu Fuß zurücklegen, denn das Wasser verschwindet irgendwo in der Erde. Der Apollon Tempel steht zur Hälfte und blickt auf eine verträumte stille Sumpflandschaft mit kristallklarem Wasser. Ein großer Graureiher breitet plötzlich seine meterlangen Flügel aus und weg ist er. Wie ein gestrandeter Wal liegt der halbe Baukörper von stahlgrauer Farbe inmitten einer grünen Landschaft, die in der untergehenden Sonne goldgelb scheint, während im Bergschatten sich die Landschaft stahlblau färbt und einst mit dem Tempelgestein wird.
Wenn man ganz still ist – und das wird man hier ganz von alleine – dann hört man nicht nur die Wasservögel, sondern vor allem das laute Sprudeln von Wasser. Die heilige Quelle ist nicht weit! Wir folgen dem Geräusch.
Der „Hain“ ist der heilige Bezirk des Apollon, der sowohl einen im Freien stehenden Opferaltar als auch den (blutfreien) Tempel mit einschloss. Die Pilger brachten ihre Opfertiere mit, wobei das Fleisch für das Orakel wahrscheinlich von eben dieser Opferung stammte, die zunächst dem Gott der schönen Künste, des Gesangs, der Musik und eben auch der Weissagung geopfert wurden. Erst dann ging es mit je 10 Stücken gebratenen Fleisches auf zwei Holzspießchen hinunter zu dem Wasserbecken, in dem sich ein mächtiger Strudel bildete. In diesen warf der Orakelsuchende seine Gaben, worauf eine Unmenge auch an sehr großen und selten geschauten Fischen an die Oberfläche auftauchte. Der „Prophetes“, der das Geschehen genaustens beobachten musste, zählt die Fische, bestimmt ihre Art und Größe und sagt diese Aufzählung an den Orakelpriester durch, der in sich versunken und meditierend im Hain des Apollon saß und für die Deutung des Fischorakels zuständig war.
Wir kommen ohne Fleischspieße, nur Wasser und Peja, das türkische Zeroalkoholbier, haben wir dabei. Wir sind schlecht ausgestattet und keiner Weissagung würdig, denn auch das Opfertier ist nicht mit uns. Den Opferaltar, der irgendwo zwischen dem auf dem Hügel liegenden Ort Sura und dem Apollon Tempel gelegen haben soll, finden wir nicht. Wahrscheinlich ist er als erster den Christianisierungsmaßnahmen der Byzantiner selbst zum Opfer gefallen. Denn die byzantinische Kirche steht unweit des Tempels, auf den sie herabblickt. Ein hervorragender Platz, denke ich mir, für eine Opferstätte.
Athenaios hat aber noch mehr zu berichten. Indem er sich auf Artemidor von Ephesos und sein 10. Buch der „Geographoumena“ bezieht, weiß er von einer Süßwasserquelle zu erzählen, die sich am alten lykischen Hafen befand. Dort, wo das Süßwasser auf das Meerwasser traf, bildete sich ein mächtiger Strudel, der ungewöhnlich viele verschiedene Fische anzog. Offenbar opferten die einheimischen Lykier ihren Göttern (für entsprechende Weissagungen?), weit bevor der Apollon Tempel entstand, Fleichstückchen, Feldfrüchte und Fladenbroten auf Holzspießchen. Die Lykier nannten ihre heilige (Orakel-) Stätte am Hafen „Dinos“, was „Wirbel“ heißt.
Die Orakelzeremonie variiert je nach Überlieferung in einigen Details, bleibt aber im Wesentlichen konstant und damit recht wahrscheinlich. Nur der römische Gelehrte Plinius d. Ä. bringt etwas mehr Pan-Phantasie in die Zeremonie herein, indem er in seiner „Naturalis historia“ (32, 8) von einem Orakelprister berichtet, der einem antiken Rattenfänger oder einem Orpheus gleich die Fische mit einem Musikinstrument anlockt. Dreimal muss er in eine Flöte blasen und schon kommen die Fische zu dem Wasserbecken geschwommen. Erst dann kommt es zu der rituellen Fütterung. Wenn die Fische gierig nach dem Fleisch schnappen, bedeutet es eine positive Kunde für den Orakelbefragenden. Schoben sie die Gaben aber mit ihren Schwimmflossen unbeachtet zur Seite, dann galt das als ein schlechtes Omen.
Betreten wir das Innere des Tempels, dessen Vorderfront wie weggerissen zusammengestürzt ist, wohingegen die hintere Mauer und die seitlichen Wände fast vollständig erhalten sind. Was zunächst auffällt, sind die in sich verschobenen Steinquadern. Unsere erste Idee dazu ist die eines zürnenden Gottes, der am Bau rüttelte: ein Erdbeben. Das wäre nichts allzu Ungewöhnliches, denn in dieser Zeit wurde Lykien so manches Mal von teilweise schwerwiegenden Erdbeben heimgesucht. Diether Schürr, ein Fachmann in lykischen Inschriften, erzählte mir seine Theorie zu dem zugegebenermaßen seltsam anmutenden Zustand des Tempels. Er entwirft ein Tsunami Szenario folgendermaßen: Irgendwo vor der Küste Lykiens hat es ein Seebeben gegeben, die sich daraus gebildete Welle habe offenbar keine katastrophalen Ausmaße angenommen (die wahrscheinlich irgendwo verzeichnet worden wären), habe aber sich in den schmalen Fjord zwischen den Felswänden rechts und links patentiert und ist zudem auf Gegenstrom, den die Süßwasserflüsse und Bäche bildeten, getroffen. Eine solche aufgetürmte Welle habe dann den ins Wasser hineinragenden Vorbau des Tempels getroffen oder zumindest unterspült und weggerissen. Die seitlichen Wände verloren ihre Bauelemente und folgten dem Fall, während die Rückwand sich in ihren Quadern verschob.
Ohne Frage ist eine Tsunamiwelle ein spannendes Szenario! Wo sind aber die weggerissenen Steine geblieben, denn uns dünkt, würde man den Tempel aus den vorhandenen Trümmern errichten wollen, so würden einige Quader fehlen. Hat die große Welle sie bis zum Meer mit sich fortgetragen? Liegen sie irgendwo im Sumpf? Oder haben wir ganz einfach kein rechtes Augenmaß und alles ist am Fuße der Ruine zum Wiederaufbau vorhanden?
Ein aufmerksamer Blick im Inneren des Tempels findet einen Block mit Inschriften und einen anderen mit einem eingeritzten byzantinischen Kreuz, das den heidnischen Tempel mit schneller Geste christianisiert und von unreinen Geistern befreit.
Wir verlassen den inneren Tempelbereich – der nun Jägern als Feuerstelle (und leider auch zu Müllablage) dient – und begeben uns auf die Suche nach der Orakelstätte. Nach dem Wasserbecken oder Strudel. Doch für Strudel fehlt das Meerwasser, das schon lange keinen Zugang zum Fjord hat. Es sind auch keine Reste von dem ehemaligen lykischen Hafen vorhanden. Nur der halbverfallene Tempel steht unerschütterlich als Denkmal jener Zeit, als man noch wusste, wie man die Zukunft befragen kann.
Folge dem glucksenden und rauschendem Geräusch. Dem eiskalten, sauberen Wasser, das sich zu einem Fluss vor dem Apollon Tempel versammelt, um dann den Seitenarm zu erreichen, auf dem wir gepaddelt sind. Am Ende sind wir fündig und mit der Quelle belohnt. Kein Strudel mehr, aber ein Becken, in dem sich das Wasser sammelt. Wir sind am Orakel angekommen!
In der Umgebung soll es Reste von den Wohnungen der Priester und den Unterkünften der Pilger geben. Wir finden sie nicht und machen uns auf den Weg zu der im Abendlicht leuchtenden Ruinen der byzantinischen Kirche.
Schöne Schlichtheit der byzantinischen Hafen-Kirche
Wie so häufig in der Türkei fristen die christlichen Denkmäler und Klosterrelikte ein trauriges Dasein. Damit meine ich sowohl ihr nie restauriertes, konserviertes oder auch nur irgendwie geschütztes Dasein. Sie liegen wunderbar in die Natur eingebettet, werden vom Wetter zerfressen, von Hirten angezündet, von Touristen und Wanderern zerstört und vom ’normalen Vandalismus‘ abgebaut. Auch wissenschaftlich erfahren sie wenig Beachtung, und diese dann zumeist von Ausländern (unter ihnen vor allem Deutsche und Österreicher).
In den Büchern, die mir zur Verfügung stehen, heißt es lapidar: „Nördlich des Tempels liegen Reste einer kleinen byzantinischen Kirche. Heilige Orte der Antike wurden nicht selten, wenn auch in verwandelter Form, im Mittelalter übernommen.“ Sagt mein altes Lykien-Buch von Dr. Ülgür Önen (1989). Dabei finde ich die Kirche gar nicht mal so klein und klein bedeutet zudem auch nicht per se „simpel“. Denn diese hier, die vermutlich an der Stelle des antiken Opferaltares entstanden ist, ist alles andere als bloß klein & simpel.
Tatsächlich gehört die am Hafen von Sura stehende byzantinische Kirche zu den wenigen noch sehr gut erhaltenen byzantinischen Bauten und stellt alles andere als eine bloß „kleine Kirche“ am Rande der Welt dar. Die Fachwelt, die sich den antiken und byzantinischen Relikten Lykiens verschrieben hat, ist sich über die Datierung nicht einig. Zur Disposition steht „frühbyzantinisch“ (ca. 4 bis 7. Jh.) oder „mittelbyzantinisch“ (8. bis 11. Jh.). Ich entscheide mich für frühbyzantinisch. Die Ähnlichkeiten mit den Kirchen auf der Gemiler-Insel und in Myra selbst scheinen mit augenfällig.
Die Hafen-Kirche von Sura ist eingebettet in eine große Zahl Kirchen, zu denen nicht nur die bekannte Nikolaus-Kirche in Myra, sondern zahllose kleine, kleinere, aber auch sehr große Kirchen rund um das heutige Demre gehören. Auffällig ist bei den meisten dieser Pfeilerkirchen ihre Schlichtheit (bspw. Pfeiler statt Säulen) sowie ihre große Anzahl in spärlich oder gar unbewohntem Terrain. Auch diese Tatsache bewerten Archäologen und (Kunst-) Historiker unterschiedlich. Zum einen könnten die Kirchen nach einem verheerenden Erdbeben entstanden sein (als es der Bevölkerung nicht so gut ging) oder auch in Zeiten allgemeinen Niedergangs, in der sogenannten „Dunklen Epoche“. Ich stimme in die Theorie der dritten Gruppe ein, die die schmucklosen, aber zahlreichen Sakralbauten eher einem Überfluss zurechnet, aus dem heraus man sich eben auch Kirchen und Klöster in strategisch unbedeutsamen Gegenden leisten konnte und wollte. Schmucklosigkeit kann gewollt sein. Ganz besonders bei Klosterkirchen, beispielsweise des Zisterzienserordens.
Was mich häufig und gerade hier so erstaunt, ist die ganz offensichtliche Tatsache, dass die Byzantiner, womit auch die Nachfahren der alten Lykier gemeint sind, den alten Apollon Tempel nicht als Baustelle nutzten. Kein Stein ist in der Kirche verbaut worden. Möglicherweise hat man sich das Portal aus dem Tempel herangeschafft, doch die großen, äußerst akkurat bearbeiteten Tempelsteine finden sich an keiner Stelle des kleinteilig gearbeiteten Mauerwerks der Kirche wieder. Kolin, ein Freund aus Köln, mit dem ich diesen Ausflug in die antike Vergangenheit unternehme, macht den berechtigten Einwand, dass die christlichen Bauleute vielleicht in Ermangelung entsprechender Transportmöglichkeiten die großen Quader vor Ort zerschlagen haben, um dann diese ‚Bruchsteine‘ nach oben schleppen zu können. Das ist eine gute Überlegung. Doch würde man nicht dennoch gerade behauene Fragmente im Mauerwerk finden?
Bruni Nix
Schön dass ich Eure Beiträge gesammelt habe ich muss nämlich vieles mehrmals lesen!!!
Und gerade in der jetzigen Zeit ist es gut sich mit solchen Dingen zu beschäftigen!
Schön Euch kennengelernt zu haben!