Ich gebe es zu: Nach Paraty brachte uns nicht die sagenhafte Beschreibung der Stadt, die unserer Freund und exzellenter Kenner der Region, Milan, uns gegeben hat, auch nicht unsere eigenen vielversprechenden Recherchen, sondern die Antwort, die ein befreundeter Literaturkritiker in Deutschland mir auf meine Frage gab:
“Sag mal, kennst Du das Literaturfestival in Paraty, Brasilien? Loht es sich?” – Die Antwort kam prompt: “Es soll das schönste der Welt sein.” Und ich vertraute meinem Informanten und seinem literarischen Geschmack. Ich wurde, das kann ich vorwegnehmen, nicht enttäuscht.
Festa Literária Internacional de Paraty, kurz FLIP genannt, öffnete zum ersten Mal 2003 seine Tore. Kein geringer als Gilberto Gil, ein Sängerstar und Brasiliens Kulturminister, eröffnete die erste Veranstaltung. Es heißt, die Festa Literátura sollte eine starke Gegenposition zu den ewigen kulturfreien Spaß-Cachaça-Kommerz Festen setzen, und beweisen, dass (brasilianische) Kultur mehr zu bieten hat und sich gleicherweise für die Stadt auszahlt. Wir hatten Glück, das Festival im August gesehen zu haben, denn normalerweise wird die Festa Literária Anfang Juli veranstaltet, außer es handelt sich um ein Jahr des World-Cups, wie es dieses Jahr der Fall war (Olympiade). Initiatorin des Festivals, das nun eine nonprofit Gesellschaft, die “Casa Azul”, leitet, ist die mit Preisen ausgezeichnete englische Publizistin und Verlegerin Liz Calder, u.a. Mitbegründerin von Bloomsburg Publishing (“Harry Potter“) in UK. Ihre Liebe zu Brasilien begann in den 1960er Jahren, als sie als Modemodel für Biba und Paco Rabane und als Modedesignerin und Journalistin in São Paolo arbeitete. Dazu sagt sie: “I felt this was where I belonged.The heat envelopes you, [and then there are] the smells, the tropical vegetation, the gashes of red earth, and the racial mix which I find appealing.” Sie lebte zunächst vier Jahre dort. Über ihre eigenen Kreationen sagt sie: „pretty amateur stuff, but better than sitting round the English Club pool playing bridge. I picked up Portuguese in the dressing rooms, and met journalists, photographers, artists.“ Nach vier Jahren ging sie nach Großbritannien zurück. In den 1990ern aber begann sie Brasilien für sich neu zu entdecken und verlegte einige brasilianische Autoren. Schließlich nach dem enormen Erfolg von “Harry Potter” und dem damit zusammenhängenden Goldregen für sie und den Verlag, war nicht nur das Literaturfest in Paraty möglich zu finanzieren, sondern auch ihr allmählicher Rückzug aus der Geschäftswelt. Calder und ihr aktueller Ehemann kauften 2000 ein Landhaus in Paraty, wo sie die Hälfte des Jahres verbringen: „We have solar power, which is incredibly exciting.“ Zuvor musste man schon auf Grubenlampen kochen, was jedoch sicherlich nur eine schöne Geschichte ist. Ondaatje beschreibt Calder: “Liz in Brazil is probably the real Liz: tanned, serene and blissful.“ – gebräunt, gelassen und glückselig.
Für ihren Einsatz für die brasilianische Kultur bekam sie den Ordem de Mérito, den Verdienstorden, der ihr vom damaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva überreicht wurde.
Dass das Festival eine große internationale Anerkennung von Anbeginn an fand und findet, liegt sicherlich an der Fundatorin selbst und ihrer Kenntnis des Literaturbetriebes. Klugerweise bedient das Festival sowohl das nationale Publikum, da es jedes Jahr einem besonderen brasilianischen Autor oder einer Autorin ausführlich würdigt und darüber hinaus junge Literaten präsentiert, als auch das internationale Publikum, indem berühmte Spitzenliteraten nach Paraty eingeladen werden. Dieses Jahr waren das unter anderem Karl Ove Knausgârd und Svetlana Alexievich. Zuvor nahmen unter anderem Salman Rushdie, Don DeLillo, Ariano Suassuna, Isabel Allende, Joanna Trollope, Michael Ondaatje und Orhan Pamuk daran teil. Über Liz Calder läßt sich noch einiges interessantes sagen, das man bspw. in in The Guardian nachlesen kann.
Es ist noch früh, als wir in die Rua da Praia nach rechts einbiegen und uns inmitten einer breiten altgepflasterten Straße wiederfinden, gesäumt von weißen Häusern mit geschmackvoll bemalten Fenster- und Türrahmen, stielvoll geometrisch ornamentierten Eckpfeilern. Weiß ist hier Pflicht, Farbe ist – man kann kaum sagen “nur” – zum Akzentsetzen erlaubt. Nicht alte, aber wunderbar schlicht und stilsicher gravierte schwere Lichterkugeln hängen von den Balkonen herunter und versprechen ein stimmungsvolles Licht in der Nacht. Sie sind im Zuge der Renovierung – war das für die UNESCO-Bewerbung? – der Stadt verordnet worden. Eine hervorragende Idee.
Diese alte Pracht begeistert mich sofort, und läßt mich an Europa denken. Hier in Brasilien, zumindest entlang unserer Route, war nur Salvador de Bahía – wenigstens im Kern der Altstadt – (kunst-) historisch von Interesse. Kein Ort hatte aber so gut restaurierte und in der Größenordnung soweit zusammenhängende Altstadt zu bieten wie Paraty. Man mag einwenden, dass solche Orte etwas künstliches haben. Doch trifft dieser Einwand hier nicht oder noch nicht zu, denn die Altstadt ist alles andere als perfekt, und damit zu Tode restauriert, wie wir es von einigen Städten in Europa her kennen. Fleißige Renovierer beseitigen meistens die Schäden an den Fassaden kurz vor einem Fest. Dabei sollte man auch ehrlich sagen, dass Paraty in bezug auf Feste sicherlich am Weltniveau liegt, wenn nicht sogar die Liste anführt, mittlerweile vielleicht nicht nur quantitativ.
An diesem Morgen hatten wir allerdings nur Nebenblicke für die Schönheit der schlafenden Stadt übrig, denn wir suchten eine Informationsstelle, die uns über das Programm zu dem wichtigsten oder schönsten Literaturfestivals der Welt bringen sollte. Vergeblich. Mit großen Augen und ungläubig haben wir uns immer wieder die Antwort angehört, die Eröffnung sei morgen und dann gibt es auch das Programm.
Also gut, dann eben morgen. Aber wie soll man ohne Programm die Karten für die Veranstaltungen kaufen? Uns wurde versichert, auch wenn es “Ausverkauft” heißen sollte, im Nachverkauf kurz vor der Lesung gäbe es dann doch noch ausreichend. Alles gut, bloß kein Stress.
Die Gutgläubigkeit stellte sich am nächsten Tag als ein Fehler heraus. Wir bekamen wunderbare kleine Bücher, hervorragend gestaltet, als Programhefte ausgehändigt und am riesigen Veranstaltungszelt konnte auch eine Person englisch, doch an der Kasse waren alle von uns angesteuerten Veranstaltungen ausverkauft. Und das blieb auch so als wir uns in die kilometerlange Schlange für Leidensgenossen stellten.
Gelassen waren dann nur die, die schon wie durch ein Wunder die Karten – wann und wo?! – vorher bekamen, und ein einheimischer Hund, der inmitten der vielen Füße ruhig schlafen konnte. An dem türrahmenfüllenden (gelassenen) Securityman war kein Vorbei möglich.
Das Programm war so vielfältig – Lesungen, Diskussionen, Kochvorführungen (sehr beliebt), Degustationen (auch), Kunst, Film, Buchhandlungenevents, Konzerte, für Kinder, für Jugendliche, für Nachwuchsliteraten –, dass wir ein wenig überfordert waren. Unsere Entscheidung fiel auf Karl Ove Knausgârd, gefolgt von Kochen und Degustieren und alles was noch so dazwischen passte, bzw. frei zugängig war. Wir lernten auch die (überraschend) reiche Welt der brasilianischen Buchgestaltung in den (nicht minder überraschend) vielen Buchhandlungen der Stadt kennen. Waren von der Gestaltung der Räume, von den Buchladen-Cafés wie auch von den Büchern begeistert.
Dank der überaus finanzstarken Sponsoren, die dieses Fest ganz offenbar unterstützen (neben den Finanzen aus der Familie Calder), gab es die großen Lesungen und Diskussionen auf einem kinogroßen Monitor in bester audiovisueller Qualität für umsonst zu genießen. Angrenzend an den romantischen Fluß, die Lagune und nicht zu verachten an offene, hauseigene Bar war das Areal vor der Leinwand sicherlich die bessere Wahl, daher auch dicht bestuhlt und vollbesetzt. Aber wir fanden noch Plätze für uns und Nico durfte mit, sowie auch vielen andere literaturbegeisterte Hunde des Ortes. Und so kam ich zu meinem Knausgârd dann doch noch.
Übrigens ein wunderbarer, ehrlich wirkender Gesprächspartner während der Diskussionsrunde und Lesung. Witzig, unverstellt und ernst. Ich war ganz angetan und ließ es mir nicht nehmen, ein Autogramm zu ergattern. Denn tatsächlich haben wir deutsche Ausgaben einiger seiner Bücher an Bord. Diese weise Auswahl habe ich wiederum meinem lieben Freund Thomas R. zu verdanken, der mich immer noch mit Literaturtipps versorgt. Ganz oben auf seiner Best-Off-Liste stand Knausgârd von dem ich – ich gestehe – zu diesem Zeitpunkt noch nichts vernommen habe.
Und ich gestehe weiter, dass ich dieses Mal gar nicht erst versucht habe, mich in die nun wirklich kilometerlange Schlange der wartenden Fans einzureihen, sondern dass mich die während meiner Studienzeit gelernter Kenntnisse in Poker-Face-So-Tun-Als-Ob hier ganz problemlos nach vorne brachte. Ich bin nicht stolz auf diese Fähigkeit, aber ich habe sie nun mal.
Offenbar fiel meine deutsche Taschenbuchausgabe und ein anderes Auftreten dem Autor auf, denn wir hielten eine kleines Smalltalk unter den nicht so glücklichen Blicken der auf Schnelligkeit und Reibungslosigkeit bedachten Einweisern. Knausgârd tat mir durchaus leid: nur ein kleines Bier und hunderte von ehrfürchtigen Fans.
Danach ganz beschwingt ob meiner Beute entdeckten wir Paraty im Rausch der Literatur und des Lichts! Das war der Auftakt für eine wunderbare Zeit, die über einen Monat lang währte. Doch zuvor aßen wir noch einige kleine Köstlichkeiten und tranken zum ersten Mal hervorragende brasilianische Weine (die gibt es tatsächlich) auf der Veranstaltung der Kochbuchabteilung und lernten auf diese Weise einige Örtlichkeiten kennen, die uns sonst verborgen geblieben wären. Das ging eine ganze Woche lang so weiter. Doch der Eröffnungsabend war zweifellos der schönste Abend von allen.
Und weil unsere Eintrittskartenarmut bestehen blieb oder einige der von uns favorisierten Veranstaltungen zu voll oder auf Portugiesisch waren, entdeckten wir ein Theater der ganz besonderen Art. Ein Puppentheater für Erwachsene, mit beinahe lebensgroßen Puppen, die von in Schwarz gekleideten Puppenspielern bewegt werden. Der Clou besteht nicht darin, die Puppenspieler zu negieren, sondern ganz im Gegenteil ihre Anwesenheit in das Spiel auf der Bühne zu integrieren. Verblüffend wie gut die Imagination der Szene dennoch – oder gerade deswegen – funktioniert.
Wir machten uns kundig und erfuhren, dass das Theater vom Weltrang ist. Die Initiatorin dieser “Puppenspielschule” verkaufte uns die Billets, doch an die Puppen Hand anlegen dürfen mittlerweile jüngere Puppenspieler. Wir haben viel erwartet und wurden auch hier nicht enttäuscht. Die Imagination trotz der nicht verhehlten Anwesenheit der Puppenspieler ist zeitweise atemberaubend.
Wenn man genau hinschaut, dann entdeckt man die schwarzbehandschuhte (Führungs-) Hand am Kopf des alten Mannes [ © pousadinhas.com.br]
In Paraty 1981 gegründet, geht das Puppentheater auf ein brasilianisches Künstlerpaar zurück, das 1971 im Central Park von New York für Aufsehen sorgte. Damals trugen sie riesige Masken und gaben eine Performance mit große Gesten und raumgreifenden Bewegungsabläufen ab. Das Sollte sich nach und nach grundlegend ändern. Heute gehört die “Grupo Contadores de Estórias” mit ihren Gründern und Puppenerfindern Marcos und Rachel Riba zu den weltbekanntesten Puppenspielern überhaupt.
Für Fotos und Historie (auf Portugiesisch) gibt es die Homepage hier. Wer die Künstler in Aktion sehen möchte, hat die Möglichkeit es auf youtube zu tun:
[wenn es nicht funktioniert dann hier: https://youtu.be/B4swHD9IY-o]
Paraty im nächtlichen Festivalrausch