An einer Teeplantage vorbeizufahren und für ein Foto anzuhalten, ist eine Sache. Eine ganz andere ist es aber, eine Teeplantage einen Tag lang zu erwandern. Erst recht, wenn man dabei mit dem Manager des Estates unterwegs sein darf. Dieses Glück hatten wir – wie es dazu kam? Das ist eine Geschichte, die auf einem Golfplatz beginnt, obwohl keiner von uns Golf spielt und diesen Geschicklichkeitsspaß auch nicht erlerne möchte. Doch manchmal lohnt es sich, mit dem Hund an ein paar indischen Golflöchern vorbeizugehen.
Wie wir zu einem Teemanager in Panniar kamen
Eines morgens spazierte Marcel (für mich ist es immer zu früh) mit Nico, unserem Bordhund, auf der Bolghatty Insel in Cochin – gleich neben dem Bolghatty Palace, wo unsere Marina liegt. Dabei passierte er die kleine Golfanlage, die hier auch schon mal als Parkplatz dient, wenn eine der Mega-Hochzeiten ganz im indischen Stil stattfindet. Man grüßt wie immer den Nachtwächter, der immer noch Dienst hat, und den Torwächter, und die Frauen und Männer, die ins Bulghatty Palace Hotel zur Arbeit gehen. Alle kennen sie mittlerweile Marcel und vor allem unseren Hund. “Nikoo, Nikoo”, hört man sie rufen. Uns ist es immer ein wenig unangenehm, dass Nico alle freundlichen Rufe stur ‘überhört’. Tut er es jedoch mal nicht, und nähert sich einem der Rufer, sorgt diese Kehrtwende in seinem Verhalten für große Aufregung. Frauen in bunten Saris kreischen aufgeregt und machen Anstalten wegzurennen. Danach gibt es – wie immer in Indien – Gelächter. Indische Männer halten sich tapfer – bis zu letzten Sekunde. Dann fuchteln sie schließlich doch aufgeregt mit den Armen.
An so einem gewöhnlichen Tag passierte etwas ungewöhnliches. Marcel hörte ein deutsches “Guten Morgen!”. Der Rufer war Ramish, ein passionierter Golfer, der in der Schule in Cochin Deutsch gelernt hat. Doch Ramish ist nicht nur eine ehemals fleißiger Deutschschüler, sondern auch ein Consulter for Organic Tea. Er bringt uns nicht nur einen wunderbar duftenden Tee aus Assam mit, sondern vermittelt uns den Plantagenmanager in Munnar, genauer: in Panniar. Dich schickt einer der zahlreichen indischen Götter, denken wir. Und wir sollen damit recht behalten – nicht nur in Bezug auf Tee.
Panniar Estate (Panniyār)
Schon als wir zu unser schwer erreichbaren und enttäuschenden (ich habe darüber berichtet) Unterkunft, dem Bungalow “Misty Courtyard”, fahren, bewundern wir die herrlich angelegten Teegärten rechts und links der fast leeren, noch nicht ganz fertiggestellten Straße. Es ist bereits spät. Tiefe Wolken breiten sich über die Höhen und umhüllen allmählich auch den See am Talgrund. Noch wissen wir nicht, dass wir am Panniar Estate vorbeifahren.
Am nächsten Tag bekommen wir das OK von dem Manager der Panniar oder Panniyār Plantage, den uns Ramish vermittelt hat: “Ihr könnt kommen, ich habe etwas Zeit”, heißt es per WhatsApp von Jitendra Jha. Wir fahren also los auf der uns mittlerweile vertrauten Straße, die auch hier auf ihre dreifache und vierfache Breite erweitert wird. Links und rechts verschluckt die Erweiterung alte Teebüsche, zerstört die bewachsenen Abhänge und die raren Baumbestände am Straßenrand. Alles zum Wohle der Tausenden von Touristen, die diese Strecke bald befahren werden, und sicherlich wird keines ihrer Blicke an den Narben in der Landschaft verweilen, die diese monströse Straßen hinterlässt. Alles selbstverständlich ökologisch vertretbar, denn schließlich sollen noch mehr Touristen auf schnellerem Wegen sich an dem Rest der Natur erfreuen können.
Später werde ich den Manager nach dem Straßenausbau, der seine Plantage ein Stück weit verschluckt, fragen, bekomme aber eine ausweichende Antwort. Liegt das an beidseitigen Sprachschwierigkeiten? Wie ich ein Weilchen später durch Zufall erfahre, versuchte das Panniar-Estate tatsächlich den Bundesstaat Kerala, der für den Straßenausbau verantwortlich zeichnet, von diesem Vorhaben abzubringen. Und als das nicht klappte, klagte die Firma gegen den Staat auf Schadensersatz. Was man sich als Bundesdeutscher nicht so gut denken kann, ist die Tatsache, dass eine Regierung tun und lassen kann, was sie gerade möchte. In Indien ist das gang und gäbe – Menschen und Firmen werden enteignet, ihre Ländereien oder Häuser konfisziert oder zerstört, oder, wie in diesem Fall, ohne eine Entschädigung dem Straßenbau geopfert.
Die Region, in der das Panniar-Estate liegt, gehört nicht mehr zum Munnar-, sondern zum Idukki-Distrikt, und liegt circa 26 Kilometer von Munnar-Stadt entfernt. Auf dem Gebiet des Estates befindet sich auch ein gleichnamiges Dorf und eines der alten Plantagenhäuser, das zum “Estate Heritage” zählt und an Urlauber vermietet wird.
Geschichte
Das Panniar-Estate erstreckt sich beidseitig des großen Stausees Anayirangal und hat noch einige andere Areale geschluckt, die ehemals zu dem TATA-Imperium gehörten. Mittlerweile ist Panniar ein Teil des großen Konzerns Harrisons Malayalam Limited, das auch das von uns am Tag zuvor besuchte Lockhard Estate übernommen hat. Das Unternehmen ist zwar auf Tee spezialisiert, hat aber auch noch andere Posten im Portfolio, wie beispielsweise Kautschuk (Latex), Pfeffer, Kaffee, Kardamom, Cinnamon etc. Neben Tee gehört der Anbau oder genauer: der Abbau von Gummi zu den traditionellen Geschäftsideen in der Gegend um Munnar. Das Gummi liefern unscheinbare Kautschuk-Bäume, deren Rinde man zu diesem Zwecke an vielen Stellen anritzt und wartet, bis aus dieser Verletzung die Pflanze ein schützendes Sekret abgibt – eine klebrige milchige Masse und das spätere Gummi.
Harrisons Malayalam Limited rühmt sich, Tee an den – möglicherweise – höchsten Stellen der Welt anzubauen. Das ist in Panniar nicht der Fall, auch wenn wir an diesem Tag doch schon frösteln. Im Januar und Februar kann es hier auch mal schneien, doch die paar Flocken bleiben nicht liegen. Außer wir arbeiten weiter am Klimawandel, dann werden wir häufiger in Panniar solche Zustände haben wie jetzt gerade (Februar 2020): Seit Tagen schon werden nachts Temperaturen um 0 °C gemessen, letztes Jahr gab es Frost.
Harrisons Malayalam kam zu dem Panniar Estate durch Akquisition von kleinen und größeren Teeplantagen samt ihrer zum Teil alten Häuser, die nun häufig als Ferienhäuser dienen und sich durch herausragende Lage, manchmal auch sehr schönes altes Originalambiente auzeichnen. Mit Panniar hat Harrisons auch einen der ältesten Plantagen der Region aufgekauft. Ursprünglich gehörte dieses Gebiet J. A. Hunter und K. E. Nicoll, die wie alle anderen Siedler der ersten Stunde den Urwald planierten und zunächst auf Kaffee, Chinin- und Gummibäume und erst später auf Tee setzten.
Die Anfänge der heutigen Plantage liegen in den frühen 1900er Jahren als die englische Firma Harrisons & Crosfield, seit 1857 Teehändler in Liverpool, die Plantagen in Western Ghate aufzukaufen begann, und schließlich 1907 die Tochtergesellschaft Malayalam Plantations Ltd. gründete. Neben Tee wurde vor allem auf Gummi gesetzt. Heutzutage heißt es, Harrisons sei die weltgrößte Firma für Gummi. In den 1980er Jahren wurde die Firma von der RPG Group (nach ihrem Gründer Rama Prasad Goenka benannt) aufgekauft, ein der mächtigsten Globalplayer der Welt mit Hauptsitz in Mumbai und hunderten Subunternehmen in den USA, Mexiko, Brasilien, Polen, an vielen asiatischen Standorten und natürlich in Indien und Sri Lanka. Nach der Übernahme wurde aus Harrisons & Crosfield und Malayalam das heutige Subunternehmen Harrisons Malayalam Ltd. Heute gehört das Tea-Estate gemeinsam mit dem TATA-Teacompany zu den größten Teeproduzenten Südindiens.
Harrisons Malayalam produziert in den Teefabriken in Panniar den sogenannten Orthodoxen Tee und den CTC-Tee (crush-tear-curle; zerbrechen, zerreißen, rollen) zu gleichen Teilen. Zusammen kommen sie auf ein jährliches Produktionsniveau von gut 20 Millionen Kilogramm. Diese Produktionsgröße trägt natürlich nicht nur das Panniar-Estate, sondern zurzeit an die 20 Teeplantagen, die insgesamt über 24.000 Hektar Anbaufläche und 13 Fabriken verfügen. In Südindien sind es 6.000 Hektar und 12 Estates. Produziert werden die Teesorten: Whole Leaf, Broken, Fannings und Dust. Bio-Tees der Harrisons Malayalam werden bisher nur auf dem Touramulla-Estate weit von Panniar entfernt in Wayanad-Region angebaut. Seit 2016 ist die Tee-Sparte der RPG-Group noch einmal gesplittet in zwei Unternehmen, die nun die Söhne des verstorbenen Gründers getrennt von einander leiten. So kann man die wirtschaftlichen Wege bestens verschleiern.
Schönheit
Die schmalen Wege, die sich durch die Plantagen ziehen, die Stille, die sich über die sanften Hügel legt, das Schattenspiel auf den scheinbar samtweichen Teebüschen – all das ist ideal für eine langanhaltende Meditation beim Gehen… Die sogenannten Schattenbäume, die in regelmäßigen Abständen die Teebuschreihen markieren, sind fedrige Ausrufezeichen mit wichtigen Funktionen.
Die Schattenbäume – nomen est omen: Sie spenden den notwendigen Schatten, damit die zarten Teeblätter auch zart bleiben und zu gesunder Photosynthese angeregt werden. Darüber hinaus beugen sie der Bodenerosion vor und sorgen für die natürliche Düngung sowie Stickstoffanreicherung. Diese speziellen “Albizia chinensis”, auch Sau-Baum genannt, werden von den Chinesen seit Tausenden von Jahren auf ihren Teeplantagen eingesetzt und stellen eine Notwendigkeit und nebenbei ein ästhetisches sur plus dar. Übrigens, die Schattenbaum-Gattung ist nach dem italienischen Adligen Filippo degli Albizzi benannt. Er gehörte der berühmten Florentiner Familie Albizzi an und führte den Schattenbaum im 18. Jh. nach Europa ein.
Arbeit
Diese meditative Landschaft fesselt uns vielleicht daher so sehr, weil hier die wilde Natur geordnet und zu einem ästhetischen Ganzen komponiert ist. Verschwunden ist der Schrecken – geblieben nur die Schönheit nach dem Chaos. Dabei wird schnell vergessen, dass dazu vor allem viel Arbeit erforderlich ist.
Hunderte von Arbeiterinnen, tatsächlich sind es vor allem tamilische Frauen (ich habe bereits darüber geschrieben), gehen Tag ein, Tag aus durch die winzig schmalen Rillen zwischen den Buschreihen durch und pflücken die saftigen jungen drei obersten Blätter ab. Dafür benutzen sie eine spezielle Schere, die auf einer Blattseite so etwas wie einen metallenen Köcher hat, wo sie Teeblätter zunächst gesammelt werden. Das Pflücken von Hand, also das Abbrechen der Triebe oder Pflücken der Blätter, habe ich hier nicht gesehen. Mit ihren langen weißen Stangen messen die Arbeiterinnen die Höhe der Büsche ab und beschneiden sie entsprechend auf eine generalisierte Höhe. Sie tragen das gesammelte schwere Blattgut auf ihren Rücken in Netzsäcken, selten in Körben. Zwischendurch laufen sie zu ihren winzigen Behausungen, um dort für ihre Männer und Kinder zu kochen… Dann wieder zurück zu den Teepflanzen. Das geht bis zum Abend so.
In dieser Umgebung sieht sogar eine schwere Arbeit pittoresk aus. Mit der Arbeit, die die Männer verrichten, bricht die unschöne Realität in das grüne Paradies ein, denn ihre Aufgabe ist es, die Teepflanzen mit Pestiziden und Bioziden zu besprühen und Kunstdünger auszustreuen. Aus Sicht der Teeproduzenten eine “Notwendigkeit” – aus der Sicht der Teetrinker ein “Übel”. Dazwischen stehen die selten zu Sprache kommenden ArbeiterInnen, die dem Teufelszeug ausgesetzt sind. Wie heikel dieses Thema ist, merken wir, als ich nach dem Zweck der kleinen Vorrichtungen frage, die überall vor den Pflanzenreihen im Boden eingelassen und mit weißer Farbe markiert sind. Der Manager antwortet sinngemäß: “Hier werden verschiedene Mittel gemischt”. Damit sind Düngermittel aber auch Pestizide gemeint. Selbstverständlich alles für Menschen ungefährlich und wissenschaftlich geprüft. Natürlich.
Für alle, die sich für das technische Drumherum und die Firmenprofile bei der Teeherstellung in High Range interessieren, gibt es beispielsweise eine interessante Studie, die sich auf sehr vielen Seiten mit der Entwicklung und den Problemen der Teeregion beschäftigt. Alles auf Englisch: Profile and Prospects Of Tea Plantation Industry in Kerala. Und: Technical And Scientific Aspects Of Tea. Eine gute Gegenüberstellung der sozio-ökologischen Probleme der Teeproduktion gegenüber der Biodiversität in Kerala gibt es von Rakes Kumar: S
Trotz aller Mängel und schlimmen Zustände muss fairerweise auch gesagt werden, dass die Kinder der Arbeiterinnen in firmeneigene Schulen gehen und dass firmeneigene Krankenstationen die Familien versorgen. Beides unentgeltlich. Das ist vielleicht nicht viel, aber auch nicht wenig im heutigen Indien, wo die Armut ein Tabu-Thema ist. Dennoch, auf diesen und ähnlichen Plantagen muss man grundsätzlich mit schwerwiegender Ausbeutung der Arbeiterinnen rechnen. Für diese Zustände sind alle mitverantwortlich, die nicht bereit sind, für die Produkte adäquate Preise zu zahlen, stattdessen lieber noch ein wenig mehr den Preis drücken und zu 99-Cent-Teebeuteln greifen. Andererseits werden sie mit viel Pestiziden und schlechtester Qualität bestraft.
Für unseren “Führer” Jitendra Jha stellt unserer Besuch einen Einbruch in die tägliche Routine und Arbeitsvorgänge, die jedoch trotz Gäste gemacht werden müssen. Wir begleiten Jitendra Jha also auch auf seinem normalen Gang durch die Plantage und haben das Glück, alles aus erster Hand zu erleben.
Das Wetter spielt an diesem Tag überhaupt nicht mit. Es regnet und regnet und regnet… Macht nichts. Tee im Regen ist besonders empfehlenswert.
In Panniar wird nicht wirklich von Hand gepflückt, das heißt, die Teeblätter einzel abgezupft. Statt dessen bedienen sich die Arbeiterinnen spezieller Scheren, deren Klinge einen metallenen Köcher hat, wo die Blätter darin landen. Diese quasi maschinelle Methode nennt man „shearing“ also „scheren“. Jedes Estate hat unterschiedliche Pflückintervalle, auf Panniars Arealen werden die Pflanzen alle 5 bis 15 Tage reihum gepflückt, äh – geschoren. Die Manager der Plantagen sind sich nicht ganz einig, ob dieses mechanische Scheren die Qualität steigert oder eher nicht. Einig sind sie sich aber über die Quantitätssteigerung und den geringeren Bedarf an Arbeiterinnen. Es gibt auch noch elektrische Scheren … Es geht immer noch schneller und immer weiter. Ich glaube nicht, an eine Qualitätssteigerung durch Mechanisierung. Und wo sollen dann die Pflückerinnen arbeiten, wenn sie durch die motorisierten Scheren verdrängt werden?
Hier wachsen sowohl die Sorten “Assam Tea” als auch “China Tea”. Wir erfahren, dass Teepflanzen – ähnlich wie Wein und Olivenbäume – ohne Probleme über 100 Jahre alt werden können. Panniar-Estate gehört jedoch, wie ich voller verwunderung später lese, zu jenene Plantagen, die die jüngsten Büsche haben. Gerade mal 10 Jahre alt sind die Gewächse, die uns hier umgeben. Die ältesten Pflanzen, allesamt über 100 Jahre, hat hingegen Periya Peak. Es heißt, alte Pflanzen haben kleinere Erträge. Vielleicht aber auch bessere? Dennoch investieren die wenigsten Firmen in eine lukrativere Verjüngung ihrer Bestände – dafür sind die fallenden Teepreise schuld, es lohnt einfach nicht.
Teepause. Der Chef hat was mit den Arbeitern zu besprechen und vieles wird per Handy geregelt. Währenddessen gibt es für alle, die nicht telefonieren, Kekse und eine Thermoskanne von … ups es ist Kaffee!
“Mixing Spot” – wie kleine Gräber wirken die Kuhlen auf mich, in denen die harte Realität in das grüne Paradies einfällt. An den Bäumen dahinter hängen Tafeln mit der jeweiligen Feldnummer, die über Bepflanzung, Erntezeit, Beschnitt und noch andere wichtige Termine und Daten Auskunft geben. Alles ist wohlgeordnet und sauber. Man versichert uns, hier werden Pestizide streng nach Vorschrift verwendet und sind für Mensch (und Tier?) ungefährlich. Schließlich wird erst dann geerntet, wenn die Halbwertszeit abgelaufen ist. Ja sicher… Auf meine Frage nach “organic tea” wurde eine klare Antwort gegeben: “Zurzeit nein. Aber wir sind dabei, es zu ändern”.
Ein pittoresker Weg nach Hause. Marcel musste ihn auch gehen. Ich beließ es bei der schönen Aussicht im Regen und unter niedrig hängender Wolkendecke.
Technik und Tourismus
Der Stausee und Damm Anayirankal sieht je nach Perspektive mal klein, mein groß, mal langweilig, mal wunderschön aus. Wir wären nicht von alleine darauf gekommen, eine Staumauer als eine Sehenswürdigkeit anzufahren, aber die hier urlaubmachenden Inder sehen das anders und so wird dann angenommen, dass auch wir dieses technische “Wunder” sehen wollen. Und weil wir nun einmal da sind, hören wir interessiert zu, als unserer “Führer” stolz berichtet, dass der Damm bereits als “Erd-Damm” von den Briten im 19. Jahrhundert erdacht wurde. Er ist ausschließlich aus Steinen, Fels, Sand und Lehm errichtet worden und hat eine Ausdehnung von 34 km. Damit gehört er zu den größten Dämmen dieser Art in Asien. Sein Name “Anayirangal” kombiniert die Malayalam-Wörter “Aana” für Elefant und “irangal” für Abstieg miteinander. Tatsächlich sollen bis heute noch Elefanten nahe eines für Touristen eingerichteten Bootsverleihs zum Trinken und Baden kommen. Angesichts der Menge an Touristen, der großen Schnellstraße, die nun entsteht, und der vielerorts gebauten Elektrozäune wird das wahrscheinlich bald nur ein Name ohne Inhalt sein.
Für solche Entwicklung sorgt das sich selbst als “visionär” bezeichnende staatliche Kerala Hydel Tourism Center (KHTC), die die Bootsstation samt Bootsverleih direkt neben der Elefanten-Tränke einrichtete. Diese und viele ähnlich spannende Aktivitäten dienen dem selbstgesteckten Ziel, die touristische Entwicklung der gesamten Region um ein Vielfaches zu steigern. Hier ist noch viel Potenzial und daher musste auch die schmale holperige Straße zu einer schnellen autobahnartigen umgebaut werden. Sätze wie diese lesen sich angesichts der ungebremsten Ausbeutung der Region wie ein Hohn: “Das im Jahr 1999 registrierte Kerala Hydel Tourism Center (KHTC) ist eine Einheit des Kerala State Electricity Board (KSEB), dessen Hauptziel es ist, die effektive Nutzung des wasserbasierten Tourismuspotenzials in der natürlichen Umgebung der Hydel-Projekte bei gleichzeitiger Erhaltung der Ökologie der Region.”
Die KSEB ist im Übrigen dafür mitverantwortlich, dass der von den Briten so sicher errichtete Damm für die unterhalb liegende Region zu einem tödlichen Problem wurde. Doch als wir auf dem Dammrücken stehen, wissen wir noch nicht um die Zusammenhänge.
Katastrophe 2018
Es ist noch nicht lange her, gerade eineinhalb Jahre, als die Flutkatastrophe hier ihren Anfang nahm und über die Region von Cochin hereinbrach. Zwei Ursachen sind zu nennen: Zunächst die ungewöhnlich starken Monsunregenfälle – man schätzt 116% mehr als üblich –, die auf die klimatischen Veränderungen zurückgeführt werden. Dann aber auch die Unfähigkeit und Ignoranz der Hauptverantwortlichen: der Regierung des Bundestaates Kerala.
Viel Wasser kam während des Monsunmonats im Jahr 2018 die Berge in den Western Ghats herunter, füllte die Bäche und Flüsse, fand keinen Halt aufgrund der fast abgeholzten und dicht besiedelten Regionen, und überfüllte in kürzester Zeit die Staudämme, die allesamt hoch in den Bergen gebaut sind. Normalerweise sollten Staudämme ihre Schleusen zumindest teilweise öffnen noch bevor das Wasser den Maximumstand erreicht, um so einen kontrollierten Abfluss des gestauten Wassers zu ermöglichen. Ich brauche nicht zu sagen, dass es hier keine ‘Auen’ gibt, die unbebaut wären. Aber in diesem speziellen Fall geschah zwischen 8. und 10. August 2018 etwas ganz anderes: Man öffnete die Schleusen gar nicht erst und als es dann doch beschlossen wurde, gab es keine Chance auf Rettung.
Während sich die Wassermengen innerhalb der über 90 Dämme stauten und den Maximallevel erreichten, warteten die Hauptverantwortlichen auf ein Wunder. Als dieses Ereignis nicht eintraf, reagierten die Dammverwaltungen mit der Öffnung von 80 Staudämmen. Dieses Mal in der Hoffnung auf eine geordnete Selbstregulierung des Wassers und seine gleichmäßige Ableitung in das große natürliche Wasserbecken vor Cochins Küste, das sogenannte Backwater. Und so hat man den Wassermaßen freien Lauf gelassen. Die Katastrophe von unglaublichem Ausmaß traf kurz darauf ein. 30 Menschen starben, die Anzahl der umgekommenen Tiere liegt mehrfach darüber, mehr als 33.000 Menschen wurden aus ihren Wohnungen und Häusern evakuiert, oder besser gesagt: retteten sich irgendwie, wobei die arme Bevölkerung alles, was sie besaß, ersatzlos verlor. Die Auswirkungen der Flut sieht man an vielen Orts bis heute. So zum Beispiel war unsere Ayurveda-Klinik, die im Norden des Flughafens von Cochin liegt (dazu im nächsten Beitrag mehr), bis zu der ersten Etage mit Schlamm überflutet. Rücklagen, um alle Gästezimmer, Behandlungsräume, Küche, den Gemüse- und Obstgarten etc. wieder instand zu setzen, gab es – wie bei den meisten Bewohnern der Region – keine.
Eine Untersuchung der Katastrophenursachen wurde von Jacob P. Alex, einem vom Obersten Gerichtshof von Kerala ernannten Amicus Curiae, vorgenommen. Mr. Alex kam zu dem Ergebnis, dass die Hauptschuld in dem bodenlosen Missmanagement der Dammverwaltung der Landesregierung liegt. Bei all den Dämmen handelt es sich um Vorrichtungen, die der Hydroelektrizität oder Bewässerung dienen, und die Betreiber seien nur daran interessiert gewesen, das Potenzial der Dämme zu maximieren ohne wesentliche Kenntnis oder ohne Interesse an der vorgegeben Flutpräventionsordnung, heißt es sinngemäß im Report. So gab es auch keine Aktionsschritte im Fall einer akuten Lage, keine Evakuierungsmaßnahmen, keine Präventionsmaßnahmen in üblichem Dreischritt bei Gefahrenzunahme (blau, orange, rot), keinerlei Guidelines in Übereinstimmung mit der EAP-Richtlinien. Der dem Obersten Gerichtshof von Kerala vorgelegte Report wurde jedoch dort abgelehnt. Begründung: Ein Gericht ist kein Ort, um das zu entscheiden oder sich in politische Schlachten zu stürzen… Der Bundesstaat Kerala, wo die meisten Opfer zu beklagen sind, machte wiederum den Nachbarstaat Tamil Nadu und ihre Regierung für das Unglück verantwortlich. Denn, so heißt es, bei dem großen Mullaperiyar-Damm, der auf der Grenze zu Tamil Nadu und unter dessen Verwaltung liegt, hätten die Verantwortlichen zu lange gewartet und große Wassermaßen Richtung Kerala abgelassen. Man braucht wohl nicht zu betonen, dass beide Staaten in Clinch miteinander liegen. Da ist es doch besser – und für das Oberste Gericht schön einfach – alles auf den Klimawandel zu schieben. Oder doch lieber auf die Nachbarn?
Chaos und Natur
Bevor die ästhetische Ordnung, die uns heute so gut gefällt, in Panniar Einzug hielt, gab es hier genauso wie in den gesamten Western Ghates, dichten Dschungel, der Tausenden von Tierarten aber auch einigen Volksstämmen, den “Urindern”, Schutz und Lebensraum bot. Diese für uns Menschen häufig als chaotisch und bedrohlich erscheinende Natur gibt es in dieser Region nicht mehr. Eine Ahnung davon bekommen wir an den Rändern der Plantagen und an jenen Stellen, die nicht Tee, sondern Kardamom vorbehalten sind. Wir haben Glück, dass Panniar auch diese winzige Frucht kultiviert, und dass unser Guide noch Lust hatte, uns dorthin zu führen.
Wo war noch einmal der Übergang zwischen Ordnung und Chaos? Ich kann es im Nachhinein gar nicht mehr sagen, wie wir zu dem tropfnassen Mini-Dschungel gelangten. Fast übergangslos eröffnete sich vor uns eine Landschaft, die bis dahin unserem Blick entgangen ist. Nach der Ordnung der Teeplantage wirkte die Kardamom-Plantage geradezu urwüchsig. Dazu passte der stetige Nieselregen, so dass wir uns zugleich wie in einem Regenwald fühlten. Alleine die doch recht frischen Temperaturen durchkreuzten die Phantasie.
Leider konnten wir unsere Wanderung durch den Kardamom-Niederwald nicht bis zum Schluss fortsetzten. Denn auch in dieser scheinbaren Wildnis gibt es regelmäßig Feuerwerk. Nicht um etwas besonderes zu feiern, sondern um Elefanten davon abzuhalten, hier zu flanieren. Ich habe großes Herz für diese wunderschönen Dickhäuter, die mit sehr leidtun. Wo sollen sie noch hin? Das Geböller machte also nicht nur eine Begegnung mit den großen Tieren unmöglich, sondern bescherte uns das Ende der schönen Wanderung, denn unser Bordhund reagiert auf Böller genauso wie die Elefanten: mit Flucht. Dabei hätten wir gerne gesehen, wo uns der Manager hingeführt hätte.
Wir waren bei unserer unplanmäßigen Wanderung durch den tropfnassen “Niederwald” gar nicht auf Kardamom vorbereitet, und hatten gar keine Ahnung, wie die Pflanzen aussehen. Dabei verwende ich dieses Gewürz besonders gerne in der Bordküche – und seit Munnar auch im Tee. Um so schöner war dann die Überraschung!
Die Landschaft ändert sich bereits ein wenig. Ein geübtes Auge sieht den Pfeffer (die Schlingpflanze am Baum li. im Bild) und die Kardamompflanzen unten im Talgrund. Jenseits der neugebauten Straße steht noch Wald, der aber nicht mit dem ursprünglichen Dschungel zu verwechseln ist, den die ersten weißen Siedler hier noch durchwanderten. Die heutigen Wälder sind in erster Linie alte Nutzwälder, d. h. immer wieder nachgeforstete Areale, die den Fabriken Holz zur Energiegewinnung lieferten.
Hier ist er: der Kardamom mit den noch grünen Früchten und schönen lilienartigen Blüten. Wir verwenden Kardamom als getrocknete und gemahlene Samen, sie sind aber auch im frischen Zustand essbar und schmecken köstlich frisch und würzig.
Elefantenpup. Mehr haben wir in Munnar und Umgebung von Elefanten nicht zu sehen bekommen. Vor dem Hintergrund der Regressionen gegen die Dickhäuter und andere Wildtiere darf man wohl kaum mehr als Pup erwarten. Von Elefantendasein zeugen zwar viele Flurnamen, aber die realen wilden Elefanten lassen sich immer seltener irgendwo blicken. Um sie zu sehen, braucht man drei Dinge: Glück, einen Führer und keine Böller. Ich war erstaunt darüber, wie „schmal“ sich Elefanten offenbar machen können, denn die Wege sind sehr schnal.
Rechts die Schönheit einer Teeplantage – links der Rest eines Waldes. Noch wird er den Panthern, Elefanten und anderen Wildtieren überlassen. Bis jemand in den oberen Chefetagen entscheidet, dass die Teeproduktion gesteigert werden muss. Das Perfide an dem kapitalistischen System ist, dass sowohl bei steigernden Preisen (um noch mehr zu verdienen) als auch bei fallenden Teepreisen und Nachfrage (damit die Quantität die Verluste ausgleicht) die Ausweitung der Anbauflächen angeordnet werden kann.
Harrisons Malayalam betont, wie übrigens jede andere Teeplantage auch, die harmonische Koexistenz mit der “unberührten” Natur. De facto haben wir ein solches, vielbeschworenes Miteinander oder die “unberührte” Natur nirgends gesehen. Hierfür muss man sich wohl in die kleinen Wildelife-Areale begeben, doch durch eines verläuft die Hauptstraße, die die Bundesstaaten Kerlala und Tamil Nadu miteinander verbindet.
Bis in die 1970er Jahre (und darüber hinaus) war dieses Land ausschließlich Privatland. Die Besitzer konnten mit den Wäldern verfahren, wie sie wollten. Und das taten sie sicherlich nicht zum Wohle der Biodiversität, die heutzutage so gerne beschworen wird. Übrigens nicht nur hier, sondern auch bei uns. Eine vergleichbare Situation haben wir mit dem Weinanbau in Italien, Deutschland, Spanien, wo viele Winzer Biodiversität sich auf die Fahnen schreiben und gleichzeitig ihre, zugegebenermaßen auch leckere, Monokultur auf Kosten der letzten Wälder ausweiten. Die Teeunternehmen haben noch in den 1970ern in den Wäldern schnellwachsende Bäume angepflanzt und sich zusätzlich aus dem alten Dschungel nach Bedarf bedient, um die mit Holz und Holzkohle betriebenen Maschinen am Laufen zu halten. Die Menschen hier verheizen zum Teil bis heute Bäume, um zu kochen. Überall wo es geht, werden neue Plantagen angelegt. Weiter oberhalb von Top Station haben wir nicht nur abgeholzte Wälder, sondern auch riesige doppelt hintereinander gestaffelte Elektrozäune gesehen, die Elefanten von dem Betreten abhalten sollen. Ob die Elefanten dann zu ihren Wasserstellen kommen, spielt keine Rolle.
Wir machen uns nichts vor – so wunderschön auch die alten Teeplantagen sind, so sehr vernichten die neuen Anlagen die allerletzten Wälder Indiens. Zwar hat der Staat in den 1970er Jahren einiges an Land von den Firmen annektiert (ohne Ausgleichszahlung) und zu Naturschutzzonen deklariert, gleichwohl aber daraus ihr eigenes Geschäft gemacht. Der Tourismus explodiert geradezu, und das ohne eine lenkenden Hand. Trotz aller Schönheit einer alten Plantage wie der von Panniar – und sie ist besonders beim schlechten Wetter atemberaubend – muss uns klar sein, dass die rasiermesserscharfen Grenzen zwischen Nutzpflanze und “Naturchaos” immer weiter verschoben wird. Bis nur noch die staatlich geschützten handtellergroßen Reservate übrigbleiben.
Am Ende sind wir hin und her gerissen. Zweifelsohne war unser Plantagenausflug sehr schön. Mich hat das Panniar Estate mit seiner stillen Schönheit und überraschenden Momentaufnahmen begeistert und in eine beinahe traumhafte Stimmung versetzt. Es wäre schön, wenn Plantagenbesitzer und ihre Globalplayer-Firmen einsehen würden, dass Natur kein überflüssiges Chi-Chi ist. Im Grunde wollen alle ihre Kunden Organic-Tea in der Tasse und embeddded woods in den Plantagen. Lasst die Elefanten ruhig etwas zertrampeln, schlimmer als eine vierspurige Straße wird es nicht sein! Und im Gegensatz zu Letzterem kann man den Schaden schnell wieder richten.
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Ramish für seine Vermittlung und insbesondere bei unserem “Guide” Jitendra Jha für seine Zeit und Lust am Zeigen der Plantage bedanken!