Die Bolongs sind die Seitenarme des Flusses. Von Banjul aus betrachtet sieht man bloß eine Wand aus Grün. Kommt man näher, öffnet sich eine Lücke im dichten Mangrovengürtel. Man spricht von Augapfelnavigation. Der konzentrierte Blick springt auf das Echolot, auf die elektronische Seekarte und zurück voraus, prüft den eventuellen Kartenversatz. Traue nie einer Seekarte, die du nicht kennst. Das GPS gaukelt einem vor, den Standort metergenau bestimmen zu können. Doch wehe, wenn das darunter liegende Koordinatensystem versetzt ist. Die Wassertiefe nimmt stetig ab, je weiter wir in die Mangroven vordringen. Zunächst sechs Meter, dann fünf, plötzlich drei. An einer Stelle nahe Lamin Island zeigt das Echolot nur noch ein Meter und sechzig – unser Tiefgang. Wie viel Reserve hatten wir noch einprogrammiert? Dann plötzlich wieder neun Meter.
Zwei Biegungen vor unserem Ziel können wir die Masten der ankernden Yachten erkennen, die aus dem grünen Dach hinaus ragen. Bei Hochwasser sind die dicht stehenden Wurzeln der Mangroven nicht zu sehen. Die Kronen wuchern dicht an dicht aus dem Wasser, kein durchkommen scheint dort möglich. Dann plötzlich taucht hinter der nächsten Biegung die Pfahlkonstruktion der Lamin Lodge auf, sie wirkt provisorisch, marode, verlassen. Ein paar neue Bretter für Stehpaddler zeugen von Leben. Das Ankerfeld öffnet sich zu unserer Linken. Auch die Boote scheinen verwaist. Nur ein paar Yachten sind bewohnt. Gut zwanzig Schiffe scheinen von ihren Eignern hier sicher und günstig abgestellt zu worden zu sein.
Am Ankerplatz nimmt uns Idy in Empfang. Ein Senegalese mit ruhigem Charakter. Er kümmert sich hier um einige Schiffe. Er ist so eine Art Hafenmeister. Für den nächsten Tag bestellen wir Brot und bekommen echtes (wenn auch nicht ganz knuspriges) Baguette ans Schiffs geliefert. Einkäufe, Wasser, Diesel – alles kein Problem.
In der Nacht dezent die Geräusche von Affen, von Vögeln, von anderem. Wir liegen so ruhig vor Anker, als ob unser Kiel schon im weichen Schlamm versinken würde. Kein Lufthauch rührt sich. Ohne die Moskitonetze vor den Luken hätten uns die Mücken bereits im Vorbeiflug alles Blut ausgesaugt. Es wird feucht in der Nacht, so dass das gesamte Deck am Morgen mit Kondenzwasser bedeckt ist – praktisch zur Bootspflege. Die Temperaturen fallen um mindestens zehn Grad. Tagsüber schwitzen, in den frühen Morgenstunden frieren. Kurz nach Sonnenaufgang ist es am angenehmsten. Lautlos und manchmal geisterhaft gleiten die Pirogen, gefüllt mit Hobby-Ornithologen vorbei. Man hört dann plötzlich Stimmen im Morgennebel.
Anlanden am grob zusammengezimmerten Holzsteg der Lodge. Eigentlich viel zu spät am Mittag. Es ist schon heiß. Nico hechelt, kommt aber aus dem Schnüffeln und Staunen gar nicht mehr heraus. Die kleinen Affen haben es ihm angetan. Die frechen lustigen Kerlchen kommen bis ins Restaurant, das wie die paar schlichten Hütten der Lodge ebenfalls auf Stelzen bis ans Wasser gebaut ist. Von den zwei höher gelegenen Terrassen hat man einen Blick auf das grüne Blätterdach der Mangroven und die Bolongs.
Wir lernen Peter kennen, der die Lodge vor fast dreißig Jahren hier aufgebaut, und nach einem Brand im Jahre 2011 wieder aufgebaut hat. Wir treffen Sadjou (oder so ähnlich), einen echten Gambier, der uns in fließendem Deutsch begrüßt, mit nordischem Einschlag – 25 Jahre in Hamburg. Er vermietet hier die Stehpaddelbretter. Auch er nennt die Behörden in Banjul einen Horror. Nach so vielen Jahren in Europa, kann sogar er als Einheimischer sich nicht mehr daran gewöhnen. Wir sprechen mit zwei Briten von denen sich während unseres Gesprächs heraus stellt, dass wir uns schon im Fishing Club von Mindelo kurz getroffen haben. Das ist die kleine Welt der Langfahrtsegler – es ist nur eine Frage der Zeit, aber man trifft sich bestimmt irgendwo einmal wieder.
Ein langer verdichteter und befestigter Weg, sowie zwei Brücken aus Holzbohlen führen durch die Mangroven auf festen Boden. Sobald man einen Schritt vor die Lodge macht, taucht einer der Bootsboys auf, der zufällig auch Lamin heißt. Vermutlich weiß er schon, dass wir kommen, sobald wir unser Dingi besteigen. Lamin wird man dann so schnell nicht los. Er bietet seine Dienste an und zeigt uns begleitet von einem permanenten Redeschwall die Sehenswürdigkeiten des „Vordorfes“: Drei Baobabs, die Bäume, die wie keine anderen den Kontinent Afrika repräsentieren. Der erste hat einen Umfang, dass ihn einige Männer nicht umschlingen könnten. Der Stamm ist einige Meter hoch mit Sprüchen und Texten auf bunten Hintergründen bemalt. Das Dorf-Internet. Der zweite Baum hat einen Stamm, der wie ein riesiger Elefantenfuß in den Himmel ragt. Der dritte Baum, der aus einer bestimmten Perspektive so aussieht wie ein Elefantenkopf samt Rüssel und Augen versammelt unter seiner Krone einen Bienenstock. (Nicht unweit soll es einen ausgezeichneten Imker geben.)
Das Dorf-Internet
Überall türmen sich Berge von Muschel- und Flussausternschalen, die hier eine Delikatesse sein sollen. Gegrillt mit Limettensaft oder als Omelette. Leider türmen sich aber auch die Berge mit Müll. Als wir nach einer Möglichkeit fragen, unseren Müll loszuwerden, weist man uns eine Stelle im Busch, wo alle ihren Müll hinwerfen. Es fällt uns schwer. Wir hoffen in den nächsten Tagen noch eine andere Möglichkeit zu finden. Vielleicht verbrennen? Wir hörten, dass sich im abgelegenen San Blas Archipel in Panama die Segler einmal in der Woche treffen, um ihren unvermeidbaren Müll zu verbrennen. Giftiger Rauch in der Atmosphäre vs. Plastikmüll in der Landschaft. Das ist das Dilemma unserer Zeit, unserer sogenannten Zivilisation (von der ich schon lange der Meinung bin, dass sie sich auf einem degenerativen Ast befindet) und das Problem der Politik: Dass man immer nur zwischen mehreren Übeln wählen kann, und man hofft, den weniger schädlichen Weg zu gehen. Man kann nichts mehr richtig (im positivistischen Sinne) machen.
Die Leute sind freundlich und aufgeschlossen, wollen wissen, wie wir heißen und wo wir herkommen und interessieren sich für Nico. – A nice dog. Das gehört alles zum Smalltalk, den man mit jedem zweiten Gambier hält, dem man begegnet. – How are you? Nice to meet you. How is the day? Welcome in Lamin. Usw.
Hier in Lamin werden wir ein paar Tage bleiben, uns von der Überfahrt und den Behörden in Banjul erholen, ein bisschen am Schiff arbeiten und die Gegend erkunden. Danach wollen wir mit dem Schiff weiter den Fluss hoch fahren. Die Genehmigung dafür haben wir von der Hafenbehörde in Banjul bekommen.