Die Urwald-Kathedrale und das Candomblé

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Als ich mich mit der Crew der SY Yemanja und Jochen aus Itaparica nach Baiacu begab, so war die kleine Entdeckung diese Ortes (siehe den vorhergehenden Bericht) zwar eine schöne jedoch nicht die eigentliche Sache, um die es bei diesem Ausflug ging. Gesucht wurde vielmehr eine Kirche, genauer: eine Ruine aus der Zeit der ersten Kolonisierung des Landes. Die Bucht der Allerheiligen und Salvador, das damals noch Bahía hieß, gehören zu diesen denkwürdigen, wenigen Orten, auch wenn die sogenannte “Küste der Entdecker” weiter südlich liegt.

Eine vage Beschreibung, eine in den geographischen Begebenheiten verfälschende Touristenkarte und einige irreführende Hinweise der Einheimischen waren alles, was uns bei der Suche zur Verfügung stand. Zwei Anläufe waren notwendig, um dieses überraschende Kleinod ausfindig zu machen.

Brasilien ist bzw. war nicht nur ein Eldorado für Gold- und Diamantensucher. Wie Schatzsucher kann sich hier auch ein Kunsthistoriker fühlen, der oder die auf die Pirsch nach verlorenen Kulturschätzen des Landes geht. In Brasilien liegt die (Kunst-) Geschichte in Trümmern. Mit Gegenmaßnamen ist nicht zu rechnen, denn ist das nicht bloß altes Plünder, alles bloß “Kolonialzeit”? Hierin liegt ein tiefes Missverständnis dessen, was “Kultur” heißt und für ein Land bedeutet. Dieses Missverständnis teil Brasilien leider mit einigen anderen Ländern, und macht sich selbst um einiges ärmer und uns Touristen, Historiker, Kunsthistoriker, Ethnographen etc. gleich mit. Was fehlt – und das ließ sich sowohl in Gambia (englische Kolonie) als auch auf den Kapverden (portugiesische Kolonie) oder auch den Kanaren (spanische Kolonie) beobachten –, ist das Verständnis für die eigenen historischen Wurzeln, schlicht gesagt: für das kulturelle Erbe und dessen Bedeutung für die Bildung einer Nation und nationalen Bewußtseins. Etwas aus der eigenen Gesichte zu tilgen oder nicht annehmen zu wollen, hat immer und überall dort, wo es auftritt, dazu geführt, dass am Ende kein Verständnis für die eigene, nationale wie personell-kulturelle Entwicklung aufbringt. Dass man nicht weiß, wer man eigentlich in dem großen wie kleinen Wurf der (Welt-) Geschichte ist. Was bleibt ist, wenn man so will, eine amputierte Nation, deren Begriff von Modernität auf schlechten Prothesen steht und zumeist entfesselten Kapitalismus oder Diktaturen vorantreibt.

Für Brasilien beginnt die “Stunde Null” mit den vielen Entdeckern des Kontinents, all den Pinzóns, Cabrals, Magellans etc., die um das Vorrecht des Ersten kämpften und alle auf ihre Weise dazu beigetragen haben, dass Brasilien für Europa aus dem Nichts heraus, kometenhaft, zu einer Neuen Welt aufgestiegen ist. Die eigentliche “Stunde Eins” Brasiliens ist aber der Moment, an dem die Idee geboren wurde, das in seiner Dimension kaum erfasste Land auf lange Distanz gedacht zu einer Nation zu formen. Das haben nicht die ersten oder zweiten oder dritten Siedlerschübe getan, die vor allem an einer schnellen dabei arbeitsscheuen Ausbeutung des Landes in seinen natürlichen Ressourcen interessiert waren.

Portugal ist klein und nicht gerade bevölkerungsreich gewesen, zumal diesbezüglich im 16. Jh. schon ausgeblutet, da die zahlreichen in der Welt entstandenen portugiesischen Kolonien und die vielen Entdeckerschiffe die Ressource “Mensch” in Portugal selbst kostbar machten. Die Kolonie Brasilien, obzwar päpstlich Portugal zugesprochen, konnte nur dann portugiesisch bleiben, wenn es von Portugiesen besiedelt wurde. Schon scharrten Franzosen und Holländer, gefolgt von Engländern, an den Küsten Brasiliens. Wer soll sie daran hindern, das Land einfach einzunehmen und selbst zu besiedeln? Niemand. Und so entstehen vor allem französische und holländische Siedlungen, die sogar über Jahrzähnte bestehen und wachsen können. Es sei nur am Rande erwähnt, dass beides ausschließlich Vorteile für die in diesen Bereichen lebenden Menschen darstellte, vor allem für die einheimische Bevölkerung der Indios, die ursprünglich die Küsten bewohnte bevor sie von den portugiesischen Siedlern ermordet oder vertrieben wurde.

Doch endlich, Mitte des 16. Jhds hat der portugiesische König João III. ein Einsehen und reagiert auf die Hilferufe der ersten Kolonialisten, denen die neuen Herren Franzosen und Niederländer mit ihren Gesetzen und Bestimmungen nicht gefielen. Er sendet 1549 ein kleine Flotte in die neue Kolonie, mit an Bord der zukünftige Gouverneur Tomé de Sousa nach Brasilien aus. Ihm beigegeben sind die 50 Jahre lang dem Land fehlende notwendige Beamtenschaft, 600 Soldaten, die für das bis dahin gleicherweise fehlende Recht und Ordnung sorgen sollen, und 400 Degredados, die als Siedler dienen werden. Der Name weist auf ihre Herkunft hin: es sind gesellschaftlich und sozial in Portugal “degradierte”, Zuchthäusler, üble Gesellen, einige politische Gefangene ausgenommen, die hier in der Neuen Welt die neuen Herren werden. Doch Portugal kann nicht anders als nur Nutten und Verbrächer zu entsenden – was anderes gibt es nicht, Adelige sind nicht an dem Land in der Neuen Welt interessiert, weil es dort keine ausreichenden Profit zu erwirtschaften gibt. Europa, allen voran Portugiesen und Spanier sind von Gold regelrecht besessen. Und Gold ist noch nicht entdeckt worden. Sogar jene verarmten unter den Adeligen und Noblen reizt das Land nicht, auch wenn sie mit enormen Ländereien von der Größe Frankreichs beschenkt werden, die sie zwar generös annehmen, sich jedoch niemals darum kümmern werden. Darin ist das Schicksal des Landes und sein Verderben bis heute umrissen.

Ein Segen für die Anfänge Brasiliens sind hingegen die sechs in dunkle Kutten gekleidete Männer, die von Bord dieses besonderen Schiffes an Land gehen. Diese “Soldaten Christi” sind noch ein neuer, frischer Orden in Europa. Ihr Führer und Gründer – Ignacio de Loyola – lebt noch und gibt ein Beispiel in Selbstdisziplin, Zielklarheit, eiserner Denkkraft ab. Um 1550 sind die Jesuiten noch keine politisch-weltliche oder geistliche Weltmacht, wie sie später für gewisse Zeit werden (daher gefürchtet und gestürzt). Sie fordern nichts; keine Bevorzugung, keine Besoldung, keine Vasalen. Da kann ein König schlecht nein sagen. Ihnen wird die geistliche Führung im Neuen Land übertragen. Doch sie werden mehr als das, nämlich zu den eigentlichen weitsichtigen geistigen Führern des jungen Landes.

Mit diesen sechs Männern beginnt, wie Stefan Zweig es spannend darlegt, “etwas Neues für Brasilien. Alle vor ihnen waren entweder auf Befehl oder aus Zwang oder auf der Flucht gekommen; wen bislang ein Schiff absetzte an diesem Strand, der wollte etwas aus  diesem Lande herausholen, Holz oder Früchte oder Vögel oder Erze oder Menschen; keiner hatte daran gedacht, dem Lande etwas als Gegengabe zu bringen. Die Jesuiten, das sind die ersten, die nichts für sich und alles für das Land wollen. Sie führen Pflanzen und Tiere mit sich, um die Erde zu befruchten, sie bringen Medizin, um die Menschen zu heilen, Bücher und Instrumente, um die Ungebildeten zu beehren, sie bringen ihren Glauben und die von ihrem Lehrer disziplinierte sittliche Zucht, sie bringen vor allem eine neue Idee, die größte kolonisatorische Idee der Geschichte. Vor ihnen bei den barbarischen Völkern und neben ihnen unter dem spanischen Regime bedeutete Kolonisieren entweder die Eingeborenen auszurotten oder zu Tieren machen; Entdeckung ist sonst für die Konquistadorenmoral des 16. Jhds identisch mit Eroberung, Unterordnung, Unterjochung, Entrechtung, Versklavung. Sie dagegen […] denken über diesen Raubbauprozeß hinaus an den Aufbauprozeß, an die nächsten Generationen und antizipieren vom ersten Augenblick im neuen Lande die moralische Gleichsetzung aller mit allen. […] Eine neue Nation soll hier durch Mischung und Erziehung entwickelt werden. Dieser schöpferischen Idee dankt es im letzten Brasilien, daß es aus einem Konglomerat verschiedenster Elemente ein Organismus und aus den offenbarsten Gegensätzen eine Einheit geworden ist.”

Stefan Zweigs Abhandlung mit dem Titel “Brasilien. Ein Land der Zukunft”, aus der ich hier nur zu gerne mehr zitieren würde, zähle ich zu den besten historischen Darstellungen und Analysen des Landes, die ich kenne. Man sollte sich dabei nicht von dem Entstehungs- und Publikationsdatum 1941 täuschen lassen. Zweig war selbst in Brasilien als Flüchtling des Hitlerregimes gestrandet und erwies sich schnell als großer Liebhaber und profunder Kenner dieses Landes und seiner Geschichte. Auch wenn seine positive Zukunftsprognose für Brasilien die Brasilianer selbst zunichte machten, so ist es ein lesenswertes und leserfreundliches Werk, das ich jedem und jeder Interessierten empfehle.

Die Idee einer Nation mit einer kulturellen Einheit trugen die Jesuiten also im Gepäck bei sich, als sie 1549 von Bord des Schiffes gingen. Das heutige Salvador und damals Bahía wurde zu Kolonialhauptstadt ernannt und die Jesuiten bauten dort jenen Vorgängerbau der heutigen Kathedrale auf, die 1933 zerstört wurde. Sie errichteten das Jesuitenkolleg gleich neben dem Erzbischofsitz, das das größte außerhalb Roms wurde. In geheimer Mission waren sie also unterwegs, als sie das kaum gekannte Land bereisten und als erstes die Indiosprachen lernten, um ihre Sitten zu verstehen und sie für das neue Geschlecht zu erziehen. Das führte dazu, dass die Indios zum Teil besser ausgebildet waren, als die aus untersten Schichten stammenden portugiesischen Siedler und Kolonialisten. Es ist zu bezweifeln, wieweit der Pabst davon in Gänze unterrichtet war. Doch der Orden der Jesuiten ist rückblickend betrachtet schon immer für eine extravagante Idee gut gewesen. Und hier, in dem damals kaum entdeckten Brasilien, sollte unter der Führung der Jesuiten ein neues Geschlecht und eine neue Kultur entstehen. Altes europäisches (portugiesisches) Blut sollte sich sehr wörtlich mit dem neuen, von den Jesuiten als reines Blut der Indios betrachtet, der echten Einheimischen Brasiliens, zu einer neuen ‘Rasse’ mischen. Eine neue, reine Kultur, ein Gottesgeschlecht entstehen.

Die Jesuiten waren für die Indios das beste unter all dem schlechten, was die Europäer in ihr Land brachten und es am Ende zerstörten. Denn es ist nur den Jesuiten zu verdanken, dass die Indios als Menschen betrachtet wurden und vor ihrer Ausrottung durch die Siedler eine Zeitlang bewahrt blieben. Der Preis dafür war die Genehmigung der Sklaverei der Schwarzen. Denn nur wo Schwarze schufteten, wurden die Indios weniger gejagt. Und gejagt muss wörtlich genommen werden, denn die Siedler nannten sie “braune Hasen” und schossen sie wie Karnickel ab. Zum Spaß. Dass die Indios getaufte Christen waren, dass der portugiesische König sie den Portugiesen gleichstellte, dass der Pabst ihre Tötung als Christenmord deklarierte – alles schwer erkämpfte jesuitische Verdienste – half im fernen gesetzeslosen Brasilien unter den Nachfahren der Degredados nichts. Die Jesuiten hielten und halten bis heute noch an der Idee der Bewahrung der Indios, die sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchfochten. Am Ende sind sie daran gescheitert und wurden 1759 des Landes verwiesen. Das war nicht nur das Ende einer weltgeschichtlich betrachtet einmaligen Idee, sondern auch das Ende der Indios als gleichgestellte Menschen.

Heute leben nur wenige Überlebende der vielen Massaker in winzigen von einander separierten Reservaten unter strenger Aufsicht einer sehr zweifelhaften Behörde, tatsächlich nun eher wie ‘Tiere’ gehalten. Und das trotz der prominent vorgetragenen Bitten ihrer Stammesführer, die darauf hinweisen, dass die winzig kleinen Parzellen sie nicht ernähren können, weil sie ein zusammenhängendes Areal brauchen, um jagen zu können. Das heißt aber auch, dass diese Areale nicht abgeholzt und die Tiere nicht ausgerottet werden… Die Zusammenlegung und Vereinheitlichung der Gebiete ist bis heute nicht passiert, ist politisch nicht gewollt, und jetzt wahrscheinlich schon zu spät. Auch Indios, gerade jene ohne Zukunftsperspektiven, wollen sich schließlich anpassen, ein Auto haben, was zum Anziehen, ein Job – oder vielleicht doch nicht?  Die Indio-Politik Brasiliens ist ein Armutszeugnis, ein bezeichnendes dazu, für ein Land von der Größe von ganz Europa, dass es sich nicht leisten will, den ausgeraubten Einheimischen ein entsprechendes Areal anzubieten.

Wer dazu ein sehr emotionales Buch lesen möchte, dem empfehle ich den Bericht des modernen Abenteurers Rüdiger Nehberg “Über den Atlantik und durch den Dschungel. Eine Rettungsaktion für die Yanomami” (erschienen 1994), das sich wie ein Krimi liest.

Vor diesem Hintergrund betrachtet, sind die architektonischen Reste, die man von den Jesuiten in dem alten Bahía (=Salvador) und rund um die “Allerheiligenbucht” noch findet, besonders interessant. Sie sind so zu sagen die letzten Spuren jener Zeit als Brasilien noch alles werden konnte. Die “Stunde Eins”. Man könnte meinen, dass es von einem allgemeinen brasilianischen Interesse ist, die Anfänge der Nation zu bewahren. Doch dem ist nicht so. Längst zerstört durch Desinteresse an Kultur ‘der Kolonialzeit’ oder durch mutwillige Eingriffe der Gemeinden und ihrer Anwohner zeugen sie jetzt nur in ruinösen letzten Zügen von der spannenden Geschichte Brasiliens an ihrem Anfang. Bald werden sie ganz verschwunden sein und Brasilien um viele interessante Stücke noch ärmer. Doch wer will mehr von Brasilien als ihre Strände und Zuckerhüte sehen?

Itaparica, die Insel, die man von der Kathedrale und dem  ehemaligen Jesuitenkolleg der Altstadt von Salvador aus sehen kann, hat noch solche Relikte, nämlich die Ruinen der Igreja do Nosso Senhor de Vera Cruz. Sie ist auf 1560 zu datieren und somit gehört sie zu den frühsten Gründungen der Jesuiten auf brasilianischen Boden und ist  die drittälteste Kirche des Landes. Warum gerade hier? Auf einer Insel vor den Toren Salvadors? Für wen war dieses große Gotteshaus gebaut? Gab es hier Indios in der Lagune von Baracu? Gab es hier eine Idee zu verwirklichen?

Wie einem schlafenden Tier näherten wir uns dem Gebilde, das nur unzureichend mit dem Wort Gebäude zu beschreiben ist. Seine amorphe überragende Größe, der ausgebrochene Eingang, der wie eine dunkle Mundöffnung zu einer Höhle führt, die Stille des Ortes, schließlich die ungewöhnliche, gewachsene Architektur zwischen organisch und anorganisch, zwischen Baumpfeiler, Astpilastern und Backsteinarkaden, blieb nicht ohne Wirkung auf mich und – so vermute ich –  auch auf die anderen. Fassaden aus Blattwerk, gotische Spitzbögen aus Ast- und Lianengeflecht.

Was ehemals eine backsteinweiche Architektur mit barock-klassizistischem Formvokabular war, bekam eine andere Festigkeit durch die Stützpfeiler des Urwaldes. Bei dem Baum handelt es sich um “gameleira”, um wilde Feigenbäume, lese ich. Mein dürftiges Wörterbuch kennt das Wort nicht. Ich glaube aber gerne an die wilden Feigen.

Ohne diese Bäume, die sich mit dem Mörtel und Stein unentwirrbar verbunden haben, gäbe es diese Ruine nicht mehr, wären Wände ohne diese Stützen eingestürzt und alles mit sich niedergerissen. Doch hier wurden neue Pfeiler und ein neues Dach geschaffen. Wer stützt wen? Alles scheint nach einem neuen unsichtbaren Plan zu wachsen, teils sich dem Gegebenen anpassen, teils das Verrottete ersetzen. Als ob die wilden Feigenbäume – Sinnbilder der Fruchtbarkeit und Lust – die Idee der Jesuiten fortführen würden, durch Veränderung etwas zu retten.

Fitzcarraldos Scheitern im Dschungel, meisterlich ins Filmbild gesetzt von Werner Herzog (Fitzcarraldo, BRD 1982; Dreharbeiten im Dschungel) aber auch die schwere Melancolía eines Andrej Tarkowskij und seine Vision einer mit Sand gefüllten Kirchenruine (Nostalghia, I, UdSSR 1983; Dreharbeiten Italien, Kirchenruine) – beide von mir hochverehrte Regisseure – wirkten mit ihren grandiosen eindringlichen Bildern in meiner Erinnerung nach und verstärkten die Wirkung dieses Ortes.

Die Wirkung der ehemaligen Jesuitenkirche wird noch einmal verstärkt durch die Tatsache, dass die Kirche irgendwann in den geistig-religiösen Besitz des Candomblé übergegangen ist. Sie gilt heute als das Heiligtum dieser Religion, und es ist kein Zufall, dass der dort alles überspannende Feigenbaum zu den heiligen Gewächsen des Candomblé gehört.

Candomblé zählt offiziell zur katholischen Religionsgemeinschaft, doch ist diese Einordnung eher der historischen Notwendigkeit geschuldet als die schwarzen Sklaven einerseits christlich getauft wurden, andererseits an ihrem aus Afrika mitgeführten sakralen Pantheon der Götter festhielten, ohne die Riten öffentlich praktizieren zu dürfen. Die katholischen Heiligen, Jesus und Maria, übernahmen zunächst die Funktion eines Deckmantels unter dem der afrikanische Ritus vollführt werden konnte. Allmählich ist jedoch aus dem Katholischen und dem Afrikanischen ein eigenständiges Amalgam, eine Religion, oder besser gesagt eine spirituelle Richtung: das Candomblé entstanden mit Orixás (Göttern und Göttinnen), die katholischen Heiligen oder Maria mit dem Jesuskind zugeordnet werden, so dass man gewissermaßen beide religiös-sakrale Komponenten in einer Gestalt bzw. eine sakrale Komponente in mehreren Gestalten visualisiert hat.

Typisch für die Praxis des Candomblés sind Feste im kleinen Kreis der Gläubigen, bei denen die Götter anwesend sind, indem sie in bestimmte, sich im Trancezustand befindende Person ‘hineinfahren’, und um Beistand und Heilung befragt werden können. Oder auch um Umzüge/Prozessionen, bei denen die Heiligen/Götter-Figuren mitgeführt werden. Kleine Altärchen werden zusammengestellt, in Kirchen, Kirchruinen, an Wegkreuzungen aufgebaut und mit den Heiligen/Orixas ausgestattet, denen man Opfergaben wie Früchte, Blumen, Parfüm u.ä. darbietet, dabei Kerzen und Weihrauch anzündet. Die Altäre sind meistens Bittaltäre, umd ie dort zu Gruppen in bestimmten Konstellationen zusammengestellten Heiligen und Götter um Hilfe anzurufen.

Viele jener katholischen Kirchen, die im ruinösen Zustand existieren, sind von Candomblé okkupiert und mit entsprechenden Altären verziert. Auf diese Weise wird die Spiritualität bestimmter sakraler Orte aufrechterhalten und erneuert. Die alte Jesuitenkirche ist zweifelsohne ein Ort voller besonderer Stimmung und das Spirituelle, das sich häufig nur schlecht in Worte fassen läßt, schien ein fester Bestandteil dieser Atmosphäre zu sein.

Eine Überraschung war für mich der unmittelbar hinter der Kirche liegende Friedhof, der ganz offensichtlich noch zur Grablege genutzt wird. Es war mein erster (und bisher einziger) brasilianischer Friedhof und es überraschte mich, die in Europa unübliche Form der Grabmale zu sehen. Kastenformen, an Sarkophage erinnernd, mit treppenartigen Stufen durchformt, oder halbrund ausgeführt. Gekachelte Kasten riefen Assoziationen zu Badewannen wach, anderes erinnerte entfernt an Betten, an Gewölbe, an Decken oder auch an aztekische Formvokbular.

Ich hätte den Ort der Baumkathedrale verheimlicht. Aber Steffi von der SY Yemanja ist viel freundlicher. Hier ihre Version unserer gemeinsamen Abenteuer in der Bucht der Allerheiligen:

SY Yemanja verabschiedet sich…

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Aus: “Ruínas e outras igrejas”, gezeichnet von Eduardo Verderame, 2010/2011 (Federzeichnung)

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Überall entdeckt man kleinere und größere Candomblé-Altäre. Verkohlte Reste, Tüten, Plastikflaschen, verblasste oder verbrannte Fotos und Bilder, kaputte Figuren, Schalen und Schälchen. Für einen Laien schwer zu entscheiden, ist es Müll, ist es Kult? Hier scheint schon lange keine rituelle Opferung vorgenommen worden zu sein. Das Candomblé ist vom Aussterben bedroht.

Doch hier finden wir mustergültige Überreste des göttlichen Pantheons: die allgegenwärtige und wichtige Orixa “Yimanja” – ein göttliches Meer(Brandungszone)-Wesen, eine Mischung aus Maria, Schneewittchen und der Meerjungfrau -, daneben das Ärztepaar Damian und Cosmas (oder handelt es sich dabei um Cyrus und Johannes, zwei andere Ärzte?) in vielfacher Ausführung, der Ritter Georg mit dem Drachen kämpfend, Franziskus mit dem Jesuskind, Maria mit und ohne Kind, seltener, aber hier vertreten, der Salvator und der Gekreuzigte selbst.

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Auch hier am Strand allgegenwärtig die katholischen Heiligen des Candomblés, Cosmas und Damian, die hier für uns die Bekömmlichkeit der Speisen überwachen. Ein Ritual der Speisung, das immer ein Friedhofsbesuch beenden sollte, beginnt für uns mit einer Moqueca. Willkommen im Reich der Lebenden