Schweren Herzens trennten wir uns von der schönen Bucht von Camamu. Hier hätten wir – auf jeden Fall Joanna – problemlos ein Jahr verbringen können, doch das ist uns nicht vergönnt und bleibt bloße Träumerei. Wir müssen weiter „Strecke machen“, wie Marcel es formuliert, damit uns der berüchtigte Südwind, der sich im Winter an der brasilianischen Küste um oder ab Rio de Janeiro einstellt, nicht zu arg erwischt. Und da wäre noch die Kleinigkeit von einem dreimonatigen Visum, das uns EU-Europäer knebelt.
Ja, diese Einganssätze weisen deutlich darauf hin, dass dieser Beitrag viel früher geschrieben wurde als nun publiziert. Hiermit reisen wir also zurück, weit weit zurück, so scheint es uns selbst, in die jüngste Vergangenheit!
Wir befinden uns vor dem Aufbruch nach Rio de Janeiro – auf geht’s:
Die Gribfiles (Wettervorhersage), die wir nun regelmäßig abfragen, sagen nichts gutes voraus. Zunächst kein Wind, dann kurzzeitig Wind von der Seite (was gut ist), aber nur so kurz, dass wir nicht besonders weit kommen, und dann – ujujuj – 40 Knoten von vorn! Das ist wohl einer dieser gefürchteten Tiefs, die sich irgendwo zwischen den Brüllenden Vierzigern (40° S) und den Pampas bilden.
Wir überlegen, was wir tun können, und entscheiden uns für den Mittelweg: Wir wollen den Schwachwind und später den hoffentlich günstigeren Wind nutzen, um einen angeblich sicheren aber mit einem kaum aussprechbaren Namen gesegneten Ort Cumuruxatiba aufzusuchen, um dort den Starkwind abzuwettern.
Wir nehmen es gleich vorweg: Wir haben das nicht geschafft. Joanna hatte fast die ganze Reise, die Gott sei Dank nur wenige Tage dauerte, eine leichte Seekrankheit. Das „leichte“ daran war, dass sie sich nicht übergeben musste (oder wollte). Ansonsten, Leid pur, so Joanna. Kurz bevor wir Cumuru (eine Abkürzung des obigen Ortsnamens) ansteuerten und den engen Pass zwischen den Riffen, der die Einfahrt darstellt, nehmen konnten, frischte der Wind dermaßen auf, dass sich beachtliche Wellen bildeten. Marcel traute sich nicht mehr, die Riffpassage zu machen, zumal wir zuvor in der Camamu-Bucht (bitte die Namen nicht verwechseln) arg aufgesessen sind, als wir zum zweiten Mal die Einfahrt zwischen zwei Insel nehmen wollten.
Kurz vor Cumuruxatiba mussten wir also auf dort erhoffte ruhige Ankerbucht verzichten und fuhren notgedrungen weiter. Eine Nacht mehr. Der nächste Schutzhafen sollte Caravelas sein. Der Ort liegt tief im Fluß verborgen, ihm vorgelagert sind Riffe, Barren, Insel und Inselchen. Dazwischen fahren gefühlte 1000 spärlich beleuchtete Boote, denn wir müssen nun die Untiefenregion nachts durchfahren. An ein Nickerchen während der Nachtschicht ist nicht zu denken. Der Wind und die Strömung gegenan machen das Vorankommen auf den letzten Meilen schwer. Bis wir endlich die eigentliche Einfahrt erreichen, ist es viel später als geplant. Die Tide wird daher kentern während wir bereits im Kanal sind, das ist uns klar. Wir wissen nicht genau, wie stark die Strömung beim abfließenden Wasser werden kann, wie eng der Kanal und wie gut oder schlecht betont er ist. Nicht gut, denken wir.
Der Kanal, der die sichere Einfahrt nach Caravelas und zu den anderen Fischerorten an der Festlandseite bildet (es gibt noch eine andere Einfahrt, die aber unbetonnt ist), ist ein sehr schmaler Durchgang zwischen nur bei Niedrigwasser tatsächlich sichtbaren Sandbänken. Die Betonnung und zwei Peiltürme sollen den Skippern den sicheren Weg durch die Untiefen weisen. Joanna, wie immer bei solchen Manövern, hat nicht die notwendige Nervenstärke (Joanna: das ist wie „Elfmeterschießen“, das schaue ich auch nicht zu) und gibt an den Skipper ab. Unbegründet, denn die Fahrrinne entpuppt sich als vorbildlich betonnt. Allerdings stimmt die Peilung der Peiltürme nicht mehr, denn offenbar sind die Tonnen anders gelegt worden. Daher unserer Ratschlag für die Einfahrt: Man soll sich ausschließlich auf die Tonnen verlassen, solange große Schiffe diesen engen Kanal passieren, gehen auch Segler problemlos durch und alles ist auf dem neusten Stand gehalten, d.h. tief genug. Als wir die Biegung nach backbord in den Fluss nehmen, sehen wir an einer großen, sehr massiv gebauten Betonpier die beachtlichen Ausmaße dieser Frachtschiffe.
Was machen diese Riesen hier, in einer Gegend, die für Nationalparks, Naturschutz, Walbeobachtung und für die Tauchspots auf den vorgelagerten Inseln der Abrolhos bekannt ist?! Wir glaubten unseren Augen und Ohren nicht: Auf diese riesigen Schiffe werden Tonnen um Tonnen Holz verladen, beinahe ununterbrochen Tag und Nacht (bis ca. 22:00). Die enormen Trucks liefern große gerade zugeschnittene, amputierte Baumstämme an, die mit viel Lärm auf die Schiffe gehievt werden. Weghören und ignorieren unmöglich. Ist ein dieser hohen Pötte voll beladen, so wartet schon die nächste Trägerfläche in der Einfahrt, um den Platz an der Mole einzunehmen. Wir konnten diese unendliche Prozedur circa eine Woche beobachten. So viel toter Baumbestand, Tag für Tag auf riesige Frachtschiffe verladen…
Ich hätte meinen können, es handelt sich hierbei um das Brasilholz, das Pao Brasileiro (caesalpinia echinata), da es mir so überaus rot erscheint, aber dieser Baum ist beinahe vernichtet worden und so selten, dass es unter Naturschutz steht. Trotzdem, geschlagen wird er dennoch, man schnitzt angeblich aber nur Geigenbögen daraus…
Wo werden die Bäume geschlagen? Wie sehen die Wälder aus, die Tag für Tag diese Menge an Bäumen abgeben müssen? Gibt es einen nachhaltigen Ausgleich für diese Totalvernichtung im 21. Jh.? Immer wieder in solchen Situation wird uns klar, dass der Mensch zu einem unbelehrbaren Verbraucher geworden ist. Uneinsichtig und unersättlich. Es wundert nun nicht, dass die Nationalparks die Größe von kleinen Pfützen im Vergleich zu dem sie umgebenden Agrar- und Nutzland haben. Es verwundert auch nicht, wenn es heißt, dass die brasilianischen Regenwälder nur zu 5% ihrer ursprünglichen Fläche bestehen, Tendenz abnehmend! Niemand interessiert sich für diese Entwicklung, weder hier in Brasilien noch bei uns in Europa. Wo ist die ehemalige Sorge um „die Grüne Lunge der Welt“ geblieben?
So spannend die Riffe vor der Barre sind, so bietet der Fluss auf der Innenseite der Barre eher eine etwas eintönige Ansicht. Breit, von Mangroven bewachsen, hier und da kleine Flussstrände. Der Fluss hat selbstverständlich “brasilianische Ausmaße”, ist verzweigt und hat sogar auf beiden Seiten Zugang zum Meer. Die Strömung bei Ebbe ist enorm. Unsere maritimen Guides geben einige Ankermöglichkeiten auf beiden Seiten des Flusses an, doch irgendwie scheint sich hier einiges verändert zu haben. Pousadas existieren nicht mehr, bzw. sehen verlassen und zerstört aus, gleichwohl ankern viel mehr Boote vor den kleinen Piers, vor allem Fischer und Motorboote. Wir fahren zunächst bis zum nicht kartographierten inneren “Becken” des Flusses, dort wo sich der Hauptstrom verzweigt. Mutiger sind wir wie immer nicht, und kehren um.
Punta da Areia
Gleich nach der großen Verladestation für Holz reihen sich drei Ortschaften aneinander. Die erste, die wir sehen, ist die kleine Punta da Areia. Wir ankern vor dem Jetty aus Holz, der bei Flut fast überschwemmt ist und sonst gut drei Meter über dem Wasser liegt. Der Strom des auflaufenden Wassers ist stark. Nachdem wir ein vermaledeites Anlegemanöver an den Holzsteg absolviert haben, bei dem Nico in den reißenden Strom gefallen ist – und sehr tapfer bis zum Steg zurückschwamm –, präsentiert sich der Ort dörflich, dominiert von kleinen bis winzigen Häuschen, einige zeitlos in ihrer Einfachheit und Armut, andere mit Entstehungsdatum versehen, vieles aus den 1920er bis 1950er Jahren.
Der Ortskern macht uns stutzig. Joanna braucht einige Zeit, um zu begreifen, was sie daran stört. Es sind die unverhältnismäßig breiten Straßen, die die kleinen Häuschen noch kleiner erscheinen lassen, und dem Ort einen ’schiefen‘ Charakter verleihen. Ein begrünter Mittelstreifen erinnert ganz entfernt an Boulevards und Flaniermeilen, nur flanieren hier fast ausschließlich die frei grasenden Pferde. Biegt man um eine Ecke, so sieht man sich mit einem weitläufig gestalteten, im europäischen Sinne kaum als “gemütlich” zu bezeichnenden, Platz konfrontiert.
In Punta da Areia, das soviel heißt wie “Sandende/Sandspitze”, gibt es Straßen aus Kopfsteinpflaster und keine Bürgersteige. Man kann sich hier noch gut vorstellen, wie alles begonnen hat, als die Orte noch etwas undefiniertes waren, etwas zwischen Streusiedlung, Dorf und Urbanität, in einer Zeit als Mensch und (Haus-)Tier auf einem gemeinsamen Terrain zusammen oder nebeneinander lebten.
Ich (Joanna) merke es jetzt, dass ich offenbar unbewußt auf meine große Kamera verzichtet habe, die sich unpassend in den Verhältnissen des Ortes ausgemacht hätte. Gleichwohl merke ich gleicherweise spät, wie schlecht die Qualität meiner Handykamera ist. Nun, eben eine “dörfliche Optik”.
Die Geschichte des Ortes entzieht sich unserer Kenntnis. Sicherlich hängt sie eng mit der Geschichte des heutigen Hauptortes Caravelas zusammen. Wer weiß, vielleicht nahm in Punta da Areia die Besiedlung der Region ihren Anfang. Dass sich die Bedeutung von Orten im Laufe der Jahrhunderte verschiebt, ist, historisch betrachtet, eher die Regel als die Ausnahme. So gingen wir hier womöglich genauso wie die ersten Caravelas, die Holzschiffe der Eroberer und Entdecker, vor Anker? Nichts ist ausgeschlossen.
Verblüffung macht sich bei uns breit, als wir den großen Platz mit der methodistisch wirkenden Kirche betreten. Doch ist es weder die Kirche noch die alten gusseisernen Bänke in Form von Schwänen, die uns überraschen, sondern der Baum, der wie ein einsamer Fremdling am Rande des leeren Platzes steht. Er erzählt eine gänzlich andere Geschichte, eine Geschichte von einem Land dicht bewachsen mit Regenwäldern, in denen Índios lebten. Bis die Caravelas der Portugiesen kamen, ihre weißen Siedler ausluden, rodeten, rodeten, töteten und alles ihr Eigentum nannten.
Wie nicht von dieser Welt wirkt der Baumriese. Nicht minder unwirklich die Plakette nebenan, die auf einem betonierten Sockel angebracht Auskunft darüber gibt, dass dieser “Baum von hohem Altar” ein Ficus SPP ist. Übrigens, das SPP steht für „species pluralis“ und meint eigentlich, dass dieser Ficus unbestimmt ist (genauer: davon gibt es mehrere Arten), Ficus wird neuerdings in der Medizin als Mittel gegen Krebs untersucht. Die Existenz dieses Baumes verdanken wir offenbar dem Dekret des Bürgermeisters und dem hiesigen (!?) Rotary-Club.
Caravelas
Caravelas – ein sympathisch verschlafenes Nest mit 22.000 Einwohnern, eine unspektakuläre Kleinstadt, die wohl nur Eingang in die einschlägigen Reiseführer findet, da sie Ausgangspunkt für Besuche des Abrolhos Archipels ist. Der Name leitet sich vermutlich von einem Bordbucheintrag von Amerigo Vespucci her, der wegen der vielen Riffe vermerkt hat: „Quando te aproximares da terra, abre los ojos“ – Öffne die Augen, wenn du dich dem Land näherst. Das war 1503.
Nach Caravelas kommen hauptsächlich Taucher und in der zweiten Jahreshälfte Walbeobachter, obwohl ich mir das mittlerweile vorstellen kann. Die Taucher kommen wegen der ausgedehnten Rifflandschaft von Abrohlos. Auch hier soll sich die Flora und Fauna der Unterwasserwelt „etwas“ (laut unserem Reiseführer) erholt haben.
Zwischen Juli und Oktober sollen hier Buckelwale vorbeiziehen und sich im Archipel zu paaren. Angeblich hat sich die Population, nachdem sie in den 1980er Jahren fast ausgerottet war, auf ungefähr 9.000 Tiere erholt. Ich zweifle es an, weil die Fischgründe hier (wie überall in Südamerika) drastisch dezimiert worden sind – dank der internationalen, der nationalen und nun der illegalen chinesischen und koreanischen Fangflotten. Einige Seemeilen weiter liegt außerdem die Flussmündung des Rio Doce, ein seit 2015 von Grund auf verseuchtes Gebiet. Die größte Umweltkatastrophe Brasiliens, wie es heißt: Weiter oberhalb der Flussmündung ist ein Damm gebrochen. Dabei sind rund 50 Millionen Tonnen mit Arsen, Quecksilber, Aluminium und Blei vergifteter Schlamm in den Fluss und damit auch in den Ozean gelangt. (Siehe Artikel Die Zeit). Wie kommt das Zeug vor den Damm?…
Ob sich in diesem Revier die Wale paaren? Oder das Leben unter dem Wasser gedeiht? Unwahrscheinlich. Zumal die Firma bestreitet, Gifte abgeleitet zu haben. Und die Regierung? Wie immer nichts.
Vielleicht liegt es auch daran, dass Caravelas offenbar bessere touristische Zeiten gesehen hat. Viele kleine Boutiquen, Bars und Pousadas stehen leer oder sehen verwaist aus. Hat sich das Städtchen mehr vom Tourismus erhofft? Oder sind es die Auswirkungen der menschengemachten Katastrophe? Oder interessiert sich die Touristen einfach nicht so sehr für die Fauna und Flora an diesem entlegenen Ort, der selbst – zugegebener Maßen – nicht gerade hübsch bzw. gepflegt wird?
Jener Hauptort am Fluss ist nach den Segelschiffen der Eroberer von Brasilien benannt. Die Karavellen kamen zunächst in dem heutigen Hafen Porto Seguro an, doch sie scheinen sich schnell hierhin vorgearbeitet zu haben.
In Caravelas bezeugt nichts mehr die frühe Gründungszeit von 1581. Die meisten größeren Häuser sind aus der Zeit um 1890 und Jahrhundertwende. Die kleinen Hutzen sind später entstanden, doch in ihrer Einfachheit so zeitlos, dass ein Schätzen der Entstehungszeit kaum Sinn macht. Einiges aus dieser Zeit bezeugt eine offensichtlich lukrative Phase des Ortes.
Tatsächlich wurde die Stadt wohlhabend durch den industriell ausgebauten Walfang. Nachdem man die Walpopulation so stark dezimiert hat, dass sich ein Bejagen nicht mehr lohnte, setzte man auf Tourismus: schnorcheln, tauchen und, natürlich, die Beobachtung jener Tiere, die man nicht in Gänze ausgerottet hat.
Die am stärksten vom Aussterben bedrohten Wale – geschätzte Zahl 9000 weltweit – haben unweit der Flußmündung ihre Jahrtausend alte Trasse, die ihnen sicherlich zum Verhängnis wurde. Auch das als Meeresnationalpark Abrolhos deklarierte Riffrevier mit fünf kleinen Inselchen vulkanischen Ursprungs soll die Touristen anlocken. Ob diese Rechnung aufgeht und ob der Tauchertourismus tatsächlich zum Schutz dessen beiträgt, was im Begriff ist, gänzlich zu verschwinden, können wir nicht beurteilen.
Die drei Katamarane, die sich darauf spezialisiert haben, Touristen zu dem Nationalpark zu fahren, und einige andere kleine Motorboote, die geeignet schienen, den Walen nachzujagen, schienen uns eher in einem sehr desolaten, wenn auch ‘fahrbaren’ Zustand zu sein. Viele kleine Läden hatten geschlossen, und es sah nicht danach aus, als ob es nur saisonal bedingt wäre. Restaurants, Pousadas, Bars – alles wirkte geschlossen, verwahrlost oder einfach nur schäbig. Auf uns machte es den Eindruck, als ob man sich mit dem Tourismus verkalkuliert hätte. Vielleicht liegt es auch daran, dass der benachbarte große Fluß, der gleicherweise auf der Wanderstrecke der Wale liegt, vollständig durch eine brasilianische Minengesellschaft verseucht wurde.
Der Ort machte auf mich einen zweigeteilten Eindruck: ganz hinten, dort wo der Seitenarm des Flußes beginnt und die Kartographie aufhört liegt ein großes Areal, das von Fischern, einer beachtlichen Menge an Fischerbooten und kleinen ärmlichen Häusern bestimmt wird. Der andere Teil beginnt ab dem Kirchplatz und der dominanten Kirche, die Mut zu Farbe beweist. Hier stehen größere Häuserreihen, die von einem ehemaligen Wohlstand erzählen – und verfallen. Irgendwo in der Region zwischen den Orten oder dahinter muss es einen Bauboom geben, so viele Baugeschäfte wie hier haben wir an so einem kleinen Ort noch nie gesehen.
Auf unserem Auf und Ab während wir das schlechte Wetter abwetterten lernen wir vieles Unaufgeregte kennen: Ein Kilorestaurant in der Nähe einer geschlossenen Tankstelle mit gutem Essen, Mittags sehr vor – für Marcel das erste Restaurant dieser Art. Cafesinho bekommen wir dort umsonst auch wenn wir nichts konsumierten, sondern nur Wifi anzapften. Eine Einkaufsstraße, die wir mehrmals auf und ab gegangen sind und alle Geschäfte kennen. Sie erinnert mich sehr an die Läden in Gambia. Armut ist eben international. Ein großer Supermarkt, der besser sortiert ist, als in Ribeira (Salvador). Ein furchtbar verunstaltetes großes Gelände, das ehemals offenbar ein Wald oder eine alte Plantage war. Nun aber etwas eigenartiges zwischen Spaßbad, Tennisclub und Privatgelände ist. Dazwischen viel nackte Erde und Bauschutt. Reste des schönen Waldes links davon. Wie ein Mahnmal wirkt es auf uns, und harrt sicherlich der Kreissäge aus.
Wir ankern zunächst einige Tage flussaufwärts vor der Betonpier des Ortes. Das Anlegen mit dem Dingi gestaltet sich schwierig. Scharfe Muscheln besiedeln centimeterdick die Säulen und Gezeiten umspülen die Stufen der Mole. Ein Katamaran der Tauchschule liegt dort längsseits. Man signalisiert uns freundlich, dass wir dort festmachen dürfen, um an Land zu steigen. So wird dies für die nächsten Tage unser Anlegeplatz. Dem netten Mechaniker schenken wir später ein paar Dosen Bier und eine Flasche Wein. Auch im Ort wird man freundlich empfangen. Das ist die Normalität in Brasilien und wir sind – ich gebe es unumwunden zu – bereits daran gewöhnt. Mit Nico kommt man natürlich überall schnell(er) ins Gespräch.
Barra da Caravelas
Zu spät haben wir die Barra da Caravelas am Anfang der Flussmündung mit der inselartigen Sandbank entdeckt. Zwar ist diese Passage zwischen Festland und der Sandbank, die wie eine Insel ausschaut, kartographiert allerdings mit recht wenig Wasser angegeben. Für uns mit unserm Tiefgang von 1,60m müsste es ausreichen. Skeptisch und vorsichtig tasten wir uns angetrieben durch unsere Neugierde bei Niedrigwasser heran. Sollten wir aufsitzen, dann kommt das Wasser in ein paar Stunden und befreit uns. Wir finden schließlich einen Ankerplatz, doch der Abstand zum Land blieb beachtlich. Lange Dinghifahrten standen uns dann bevor.
Auf der kleinen Sandinsel, die das Festland vom Atlantik trennt, wachsen hohe alte Palmen, die ganz köstliche Kokosnüsse tragen. Wir staunten mit offenen Mündern, als wir eines Tages beinahe alles unter Wasser vorfanden. Die Insel war überschwemmt, die Palmen standen im hohen Salzwasser. Salzseen entstanden und waren dabei, den Baum- und Buschbewuchs wieder zu vernichten. Ich frage mich, was hier passiert ist, dass das Wasser wieder so weit hochsteigen kann. Als die jetzigen hohen Palmen anfingen zu wachsen, kann auf keinen Fall Salzwasser das Eiland überschwemmt haben. Vielleicht liegt es daran, dass die Holzgesellschaft den Kanal, d. h. die Fahrrinne über die wir so froh waren, immer wieder neu verlegt und vor allem in die Tiefe für die großen Transporter ausgräbt. So kann (und soll) immer mehr Meerwasser in den Fluss vordringen, die Hochstände klettern nach oben und überschwemmen das Land.
Barra da Caravelas ist genauso wie alle hiesigen Kleinstädtchen ehemals eine Fischerdomäne gewesen, die nun auf den Tourismus umsattelt. Ob dies hier genauso kläglich wie in Caravelas verlaufen wird, können wir letztendlich nicht beurteilen, aber die Dichte an Strandbars, Restaurants (ein sardisches darunter!), Souvenirläden und Ferienhäuschen spricht dafür, dass der kleine Ort sich zumindest bei einer einheimischen Kundschaft als Ausflugs- und Ferienort etablieren konnte. Am Ende des Ortes gelangt man zu einer netten Pousada und mindestens drei Bar-Restaurants, von denen wir einer Empfehlung aus dem Loose-Reiseführer folgten. Wir wurden nicht enttäuscht.
Dörfliche Atmosphäre, gepflegte Häuser. Uns hat es hier sehr gefallen.
Am liebsten aber stromerten wir mit Nico auf der unbewohnten Insel, der eigentlichen „Barra“, die aber Ilha Pontal do Sul heißt. Kokospalmen, Buschlandschaft, Sand und Lagune. Draußen, auf der Atlantikseite hörten wir immer die Brandung wüten.
Krebse flitzten überall. Geier flogen manchmal auf und Wasservögel staksten durch das Niedrigwasser.
Stutzig machten uns schon vom Boot aus erkannte Schilder, die alle paar Meter entlang des Strandes aufgestellt waren. Militär? Strenges Naturreservat? Privat? Die Rätsels Lösung viel einfacher: sie riefen auf zur Sauberkeit und zur Mitnahme des Mülls.
Ihre dichte Aufstellung der Schilder macht Sinn, wenn man sich dort im Busch umschaut. Überall liegt Plastik und sonstiger Müll herum. Da es sich dabei um Lager der Fischer (so vermuten wir) handelt, ist es auch der Müll der Einheimischen, der hier sorgenlos verteilt wird.
Wären wir direkt bei unserer Ankunft dort vor Anker gegangen – glücklich und zufrieden hätten wir auf den Nordwind gewartet und Nico hätte drei mal täglich am Strand Kokosnüsse jagen können (sein neues Lieblingsspiel, seit er weiß, dass dort etwas Leckeres ist. Und eine Kokosnuss rollt so schön unvorhersehbar wie ein „american football“.). Wir haben festgestellt, dass die frisch gepflückten Nüsse wesentlich besser schmecken, als das ‚Fallobst‘, nur sind die Palmen auf dem schmalen Eiland leider alle viel zu hoch und Marcels Fähigkeiten des Aufenterns von Palmen noch nicht weit entwickelt (trotz der Anleitung von B. Moitessier). Da trifft es sich wie gerufen, dass zwei Fischer, des Palmenenterns fähig, vorbei kommen (Nico wollte schon angreifen), und uns vier Nüsse schenken („Nimm so viele Kokosnüsse wie du tragen kannst“). Das waren die besten Kokosnüsse, die wir bisher gegessen hatten. Süßes Kokoswasser und ein Fruchtmark (nennt man das so?) so fein und weiß wie ein Mozzarella! Ach, Brasilien (sagt Joanna aus der späteren Perspektive heraus)!