…besonders am Abend
Marcel, 04. 12. 2011

…besonders am Abend, wenn man sich in Selbstablehnung verliert.“ Man sollte nicht am Abend Joseph Brodskys „Ufer der Verlorenen“ lesen, wenn man in Dieser Stadt allein in tiefen Ledersesseln, in aufwühlenden Jazz eingelullt, das Rotweinglas leert. Man versinkt in glücklicher Melancholie, in tiefer Zufriedenheit mit all den Missständen dieser Welt. Hier im „i figli delle stelle“, meinem Lieblingsrestaurant auf der Giudecca nahe der Kirche Zitelle, bekommt man ein hervorragenden Lammrollbraten mit Ofenkartoffeln und getrockneten Tomaten.
Draußen vor der Fondamenta gleiten die Vaporetti und die größeren Fähren durch den Regen, die die Autos auf den Lido bringen. Die Autos fahren hier nicht, sie werden gefahren. Neulich am Samstag Vormittag tauchte plötzlich (nein, nicht plötzlich, sondern wie durch eine Weißblende) ein Lastwagen aus dem Nebel auf, um den Supermarkt auf der Giudecca zu beliefern. Der LKW stand auf einer Art Floß mit winzigem Führerhäußchen und ließ seine Ladeklappe auf die Fondamenta nieder.
Am heutigen Samstag Abend ist die Fondamenta nicht gar so neblig, jedoch fast ebenso menschenleer. Die wenigen, die sich nach dem Regen in die feuchte Nacht hinauswagen, werden von ihren vierbeinigen Begleitern ungeduldig durch die Gassen getrieben, sich nach dem wohligen Sofa sehnend oder nach der nächsten Einkehr.
Für mich wirkt das von außen ziegelgelb illuminierte Molino Stucky wie ein strahlender Magnet aus einer anderen Welt. Sonst scheint man hier auf der Giudecca mit Licht zu geizen, was nicht weiter schlimm ist. Schließen die Supermärkte, Apotheken oder Tabakläden auf der Fondamenta ihre Läden, erlischt auch jeder Hinweis auf ihre Existenz. Man ruft nicht laut „hier bin ich“, um Kunden vor verschlossener Tür abzuweisen. Wer hier wohnt, weiß, wo er hin muss.
Und wer am lautesten ruft… In der „Rooftop Bar“ des Molino Stucky, im 8. Stock des „Giudecca Building“ drehe ich auf dem Absatz um, bevor sich die Fahrstuhltür schließen kann. Nur einen kurzen Blick über die Brüstung gönne ich mir, doch genießen lässt sich der Ausblick bei ca. 120 Dezibel lauten Bässen nicht. Im Augenwinkel sehe ich Leute, die man dabei sogar zu einem Buffet locken kann. So gelungen und dezent der Umbau der alten Mühle von außen, ist das Innere zu Tode restauriert. Hier will man nicht bleiben.
Unsere kleine Trattoria nahe der Haltestelle Pananca, in der man am Tresen für 2€ ein Caliche di Vino und einen Happen zu Essen aus der Vitrine bekommt, ist im Vergleich zur „Rooftop Bar“ ein Hort der Ruhe. Hier sitze ich noch auf ein letztes Glas Wein am Abend und beobachte die seltsamen Kellner und einen so kleinen und gedrungenen Italiener mit gockelhaftem Gang und Gehabe, der, kaum steht er wieder am Tresen, sich die nächste Kippe aus der Schachtel des seltsamen Kellners nimmt und mit eben jenem gockelhaften Gang auf die Fondamenta wackelt um zu rauchen.

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